Das polnische Venedig

Das polnische Venedig

Unweit der tschechischen Grenze verzückt Breslau mit einer Mischung aus romantischer Schönheit und lebendiger Urbanität

10. 10. 2013 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Marcus Hundt

Es waren ausgelassene und politisch unruhige Zeiten, in denen der polnische Schriftsteller Marek Krajewski seinen Helden die skurrilsten Fälle lösen lässt. Eberhard Mock ist Kriminalrat und ehemaliger Sittenpolizist im Breslau der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ein Ordnungshüter mit harter Schale und weichem Kern, der gerne selbst über die Strenge schlägt. Einer seiner Lieblingsorte, in denen er seinen inneren Bohemien auslebt, ist der berühmt-berüchtigte Schweidnitzer Keller.

Schon seit Jahrhunderten bestellten dort Stadtschreiber, Handwerker, Zunftmeister, Komponisten, Politiker – einfach alle, die in Niederschlesiens Hauptstadt wohnen oder sie besuchen – das eine oder andere frisch gezapfte Bier. Frédéric Chopin, Kaiser Sigismund, Johann Wolfgang von Goethe oder Otto von Bismarck waren in den legendären Gewölben unter dem Rathaus am Ring (polnisch „Rynek“) zu Gast. Und auch heute kommt kein Tourist, der sich ein bisschen mit Breslau, seiner Geschichte und Kultur beschäftigt, drumherum, dem Schweidnitzer Keller die Ehre zu erweisen.

Inzwischen geht es dort ein wenig gesitteter zu als in den Romanen von Krajewski, wo die „wilden Zwanziger“ auch vor altehrwürdigen Institutionen nicht haltmachten. Breslau, besonders sein zentraler Platz inmitten der Altstadt, ist längst in der Moderne angekommen. Den Ring säumen zu jeder Tages- und Jahreszeit zahlreiche Touristen. Internationale Restaurant-Ketten und schicke Boutiquen haben sich in bester Lage Gewerbeflächen zu hohen Preisen angemietet. Mit Smartphones hantierende junge Stadtbewohner schreiten hastig über das Kopfsteinpflaster hin zum nächsten Business Meeting, die Besucherströme aus aller Welt missachtend.

Der Platz scheint etwas überdimensioniert. Er hat ungefähr die Größe von zwei Fußballfeldern und wurde zwischen 1214 und 1232 unter dem polnischen König Heinrich I. erbaut. Damals waren das erstaunliche Maße; sie zeugen von der bedeutenden Stellung der Stadt als überregionales Handels- und Verwaltungszentrum. Gleichzeitig war Breslau stets das kulturelle, politische und gesellschaftliche Herz der über viele Jahrhunderte umkämpften und seine Obrigkeit stetig wechselnden Region Schlesien. Noch heute streiten sich Gelehrte darüber, ob der Name vom germanischen Stamm der Silinger oder demjenigen der slawischen Slezanen abzuleiten ist. Nicht ganz geklärt ist auch der Ursprung des Namens Breslau, polnisch Wrocław. Vermutlich leitet sich dieser vom böhmischen Herzog Vratislav I. ab, der im frühen 10. Jahrhundert über die Stadt herrschte und der Legende nach deren Gründer ist.

Worüber man nicht streiten kann, ist die außerordentlich romantische Lage Breslaus. Die Oder sowie mehrere Nebenflüsse schlängeln sich durch die weite Ebene zwischen Katzen- und Riesengebirge. Die vielen kleinen und großen Inseln, die das Stadtbild prägen, verströmen mediterranes Flair. Nicht umsonst wird Breslau auch das Venedig Polens genannt. Besonders sehenswert ist die Dominsel mit dem Sakralbau, der dem Eiland den Namen gab. Das gotische Bauwerk stellt eines der herausragenden Wahrzeichen der Stadt dar.

Architektonische Vielfalt
Doch Breslaus Reiz lässt sich bei weitem nicht auf sein historisches Herz reduzieren. Dieses schlägt kräftig und ist vor allem architektonisch viel heterogener, als man denkt. Gerade auf die zahlreichen funktionalistischen Bauten aus der Zeit der Weimarer Republik sowie auf die verschnörkelten Jugendstil-Perlen aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts sollte man ein Auge werfen. Den zehngeschossigen Bürokomplex am nordwestlichen Ende des Rings halten viele zunächst für eine sozialistische Bausünde, die eine durch den Krieg geschlagene Lücke ausfüllt. Doch weit gefehlt: Das Gebäude wurde 1931 vom deutschen Architekten Heinrich Rump entworfen. Es steht in scharfem Kontrast zu den altehrwürdigen Patrizierhäusern, die sich westwärts anschließen.

Rumps Werk ist nur eines von mehreren funktionalistischen Objekten in der Innenstadt. Diese wurde beim harten und unsinnig langen Kampf um die „Festung Breslau“ 1945 nur teilweise zerstört, obwohl große Teile der Stadt komplett abbrannten. Von den Bomben verschont blieb auch ein Bauwerk der ganz besonderen Art: die Jahrhunderthalle im östlichen Stadtteil Śródmieście. Der Architekt und Breslauer Stadtbaurat Max Berg ließ den Prestigebau 1913 mit einer riesigen Stahlbeton-Kuppel versehen. Der einzigartige Komplex wurde 2006 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt und dient bis heute als Veranstaltungsort für Messen, Konzerte und sportliche Großereignisse. Die Halle sowie der um sie herum konzipierte Park mit Springbrunnen und Wandel-Pergola ist vom Zentrum aus schnell und einfach zu erreichen – entweder mit den Straßenbahnlinien Nummer 2, 4 und 10 oder einem der Fahrräder, die in der Innenstadt an zahlreichen Verleihstellen zur Verfügung stehen.

Mit einem guten Reiseführer ausgestattet, kann man sich das Geld für die organisierte Massenabfertigung einer Sightseeing-Bustour sparen, indem man die Ringbahn besteigt. Im Uhrzeiger- sowie im Gegenuhrzeigersinn fährt man die Bezirke unmittelbar um das historische Zentrum ab und gewinnt so neben vielen spannenden Ansichten auch einen praktischen Überblick zur Topographie der Stadt. Einsteigen kann man unter anderem an der großen Straßenkreuzung Legnicka/Podwale im Fortlauf der Ruska-Straße westlich des Rings oder am Hauptbahnhof (Wrocław Glówny).

Stadt im Aufbruch
Was die über 600.000 Einwohner zählende Stadt neben Krakau zum gesellschaftlichen Anziehungs- und Knotenpunkt von Polens Süden macht, ist ihr reiches Kulturleben. Nicht nur konventionelle Museen wie das Stadtmuseum im Królewski-Palast nahe der Oper ziehen Einheimische wie Touristen an, auch und vor allem das seit rund zweieinhalb Jahren geöffnete Museum für zeitgenössische Kunst am Strzegomski-Platz (MWW) ist einen Besuch wert.

Das Kunstmuseum steht sinnbildlich für den Aufbruch der Stadt und seiner gebildeten urbanen Bevölkerung. Die Universitätsstadt Breslau und ihre Bewohner geben sich gerne weltoffen, modern und international. Man spürt diese rege Lust am Neuen, Unbekannten und Experimentellen, wenn man sich in das Nachtleben stürzt. Neben vielen trendigen Szenebars in der Altstadt sei dem geneigten Nachtschwärmer ein Besuch im alternativen Viertel zwischen der Ruska- und Antoniego-Straße empfohlen. Im „Niebo-Café-Pub“ gibt es zu elektronischen oder harten Rockklängen den halben Liter Źywiec-Bier für 8 Zloty (knapp 2 Euro). Ein diskussionsfreudiges und interessiertes Publikum erhält man frei Haus. Den trinkenden und Kette rauchenden Kriminalrat Mock hätte das sicher gefreut. Er würde sich heute wohl eher an solchen Orten herumtreiben als im inzwischen ziemlich edlen Schweidnitzer Keller.