Das Paradies vor der Haustür

Das Paradies vor der Haustür

Es muss nicht immer der Böhmerwald sein. Ein Wandertag in der Hauptstadt

7. 9. 2016 - Text: Stefan Welzel

Sanft streicht der Westwind über eine kleine Anhöhe bei Čimice. Von der Talsenke führt ein Schotterweg durch Wiesen hinauf zu einem Gutshof. Für einen kurzen Moment träumt man sich in die Toskana. Nur der Lärm einer tieffliegenden Maschine von „Czech Airlines“ erinnert den Wanderer daran, dass er sich noch immer in Prag befindet.

Mit dem Naturpark Drahaň-Troja im Norden der Hauptstadt eröffnet sich dem Spaziergänger ein überraschend vielseitiges Naherholungsgebiet. Die großen Flieger, die in regelmäßigen Abständen den Václav-Havel-Flughafen ansteuern, sind der einzige Wermutstropfen. Der Park erstreckt sich vom östlichen Ufer der Moldau über mehrere Hügel bis zu den Plattenbausiedlungen in Bohnice, Čimice und Dolní Chabry. Und er ist ohne große Mühen zum Beispiel von Holešovice aus zu erreichen. Wer sich einen halben Tag Zeit nimmt, kann unterwegs Orte und Rastplätze entdecken, die selbst manche Einheimische nicht kennen.

Als Ausgangspunkt für die Flucht ins Grüne eignet sich der Stromovka-Park. Nach einem starken Espresso in der Šlechtovka-Bar geht es über die Troja-Fußgängerbrücke in Richtung Zoo. Danach hält man sich an den mit gelben Schildern markierten Fahrradweg (A2) in Richtung Zdiby. Am rechten Moldauufer locken Imbissbuden, kleine Bars und Restaurants zum frühen Abbruch der Stadtwanderung. Die „Hospůdka u přívozu“ liegt nur wenige Schritte von der Anlege­stelle „Zámky“ entfernt. Ihr rustikaler Charme vereint die typische Kneipenatmosphäre mit einem Hauch von Campingurlaub. Wer nach rund dreieinhalb Kilometern eine Pause braucht, der kann sich hier entweder mit Bier und Wurst stärken oder das mitgebrachte Sandwich an einer der zahlreichen schönen Stellen am Ufer verzehren.

Im Drahaň-Tal eröffnet sich dem Wanderer eine zauberhafte Waldlandschaft.

Ein paar hundert Meter weiter nördlich entscheidet man sich entweder für die Abzweigung ins Čimice- oder ins Drahaň-Tal. Der Weg dahin führt an steilen Felswänden und den ersten Vorstadt-Datschen vorbei. Man hält sich am besten an den blau markierten Weg mit Zielort Čimice, der durch das hintere Drahaň-Tal führt. Dort taucht man in die Wildnis ein. Holzhäuser und ein kleiner Bach erinnern ein wenig an eine Alpenlandschaft.

Ein Fußbad zur Abkühlung
Ein kurzer aber steiler Aufstieg führt zu einer Anhöhe, von der man den blauen Wanderweg für eine Weile verlässt, um den besten Ausblick der Route nicht zu verpassen. Eine scharfe Rechtskurve ziehend folgt man dem rot gekennzeichneten Pfad. Alternativ vertraut der Wanderer einfach seinem Instinkt und geht über einen kleinen Kamm zu den Felsvorsprüngen. Fern von den Betonschluchten und der Hektik der Großstadt eignet sich der Platz gut für ein Picknick. Einzig die Einflugschneise für Linienmaschinen stört die Idylle ab und zu. Aber der atemberaubende Blick auf die Moldau entschädigt für den Lärm.

Wer Lust auf mehr Natur bekommen hat, orientiert sich nun an den rot markierten Wanderwegen. Einer davon führt nordöstlich nach Dolní Chabry und zu einem kleinen See, der zur kurzen Abkühlung einlädt – auch wenn angesichts der Wasserqualität ein Fußbad ausreicht.

Zurück auf dem blauen Pfad geht es an Äckern und Wiesen vorbei. Noch vor einem toskanisch anmutenden Gutshof führt der Weg nach links ins Zentrum des früheren Vor­ortes Čimice. Nun befindet man sich in direkter Nachbarschaft der Psychiatrischen Klinik von Bohnice. Der dazugehörige Park ist auch für Passanten geöffnet.

Starker Kontrast: Die Plattenbausiedlung Bohnice

Wanderer, die nach rund neun Kilometern und zweieinhalb Stunden Marsch (ohne Pause und Umwege) einen guten Kaffee brauchen, sind hier genau richtig. Das Klinikgelände ist mehrmals jährlich Schauplatz für Festivals – als kulturelle Begegnungsstätte sorgen die Organisatoren bei den Patienten für Abwechslung und den Kontakt mit der Außenwelt.

Koloss aus Beton
Das Lokal „Klub V. kolona“ befindet sich gleich neben dem klinikeigenen Theater „Za plotem“. In dem Bau aus den dreißiger Jahren servieren Barprofis zusammen mit Patienten warme Gerichte, aber auch guten Kuchen und Kaffee, den man im gemütlichen Garten genießen oder in den wunderschönen Park mitnehmen kann.

Beim Verlassen des Klinikgeländes wird der Wanderer zum Erkunder der größten Plattenbausiedlung im Norden der Stadt. Geologische und biologische Neugier weichen der historisch-soziologischen. Das Viertel entspricht dem Idealtypus einer kommunistischen Siedlung und entstand zwischen 1972 und 1980. Bis zu 20-stöckige Gebäude bieten in knapp 10.000 Wohnungen Platz für über 33.000 Menschen. Ein Koloss aus Beton und Glas und ein brachiales Gegenstück zur Altstadt. Aber auch ein Viertel, das aufgrund seiner Nähe zum Zentrum, der niedrigen Mieten und der guten Infrastruktur beliebt ist bei den Pragern. Von der Klinik spaziert man in etwas mehr als einer Viertelstunde quer durch die Siedlung und erreicht den Botanischen Garten.

Kirche des Heiligen Wenzel im Park der Psychiatrischen Klinik in Bohnice

Der Eintritt kostet für Erwachsene 30 Kronen, die sich aber schon wegen des prächtigen Blicks auf den Stromovka-Park und die Burg lohnen. Am unteren Ende des Gartens schließt sich der Kreis der Wanderroute bei Schloss Troja. Wer noch nicht genug hat, kann den Zoo besuchen. Schmerzen die Füße dagegen schon vor den Toren des Botanischen Gartens, bringen die Busse mit den Nummern 102 und 144 den müden Wanderer in zehn Minuten nach Kobylisy, wo ihn die Großstadt im Schlund der gleichnamigen U-Bahn-Station wieder verschlingt.