Abgründe mit Geschichte

Abgründe mit Geschichte

In den Steinbrüchen bei Karlštejn mussten einst politische Häftlinge arbeiten. Heute kommen Ausflügler zum Baden und Wandern

23. 9. 2015 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Pavel Koběrský, CC BY-SA 2.5

Amerikanisches Flair in Mittelböhmen? Türkisblaues Wasser, steile Felswände und wildes Heidekraut? Die Wegweiser im Hügelland von Karlštejn, etwa fünf Kilometer nördlich der mittel­alterlichen Burg, künden von Velká und Malá Amerika, dem Großen und Kleinen Amerika, von Kanada und Mexiko. Aber „this is not America“ – wie David Bowie vor mehr als 30 Jahren sang: Dies sind die ehemaligen Kalksteinbrüche nahe dem Dorf Mořina (Groß Morschin). Von ihren Rändern kann man bis zu 80 Meter in die Tiefe blicken.

Früher wurde hier Kalkstein abgebaut, heute locken die Schluchten Wasserratten und Wanderer an. Vor allem der größte der Steinbrüche – Velká Amerika – ist mit seinem See zu einem beliebten Ausflugsziel geworden. Im Sommer hüpfen hier Mutige von den Felsvorsprüngen ins klare Wasser. Sobald sich das Laub färbt, lädt die Umgebung zur Herbstwanderung ein. Auch die Filmindustrie hat den Ort mit seinem rauen Charme längst entdeckt: Bereits in den frühen Sechzigern diente der Steinbruch als Kulisse für die Western-Parodie „Limonaden-Joe“, später wurde hier der Märchenfilm „Die kleine Meerjungfrau“ gedreht. Dass in der schönen Landschaft viele Menschen ihr Leben ließen, ist dagegen weniger bekannt. Nur ein Gedenkstein erinnert noch an die politischen Häftlinge, die im Strafarbeits­lager der Grube Mexiko zwischen 1949 und 1953 starben.

Zwischen Mořina und Mexiko
Zu den Steinbrüchen gelangt man bequem zu Fuß entweder von Karlštejn aus oder von Srbsko, einem Dorf rund sechs Kilometer südöstlich von Beroun. Wer in Srbsko startet, läuft zunächst am Fluss Berounka entlang und durchquert dann in nordöstlicher Richtung das Hügelland von Karlštejn. Zum Ziel führen verschiedene Routen, die gut ausgeschildert sind. In etwa anderthalb Stunden erreicht man den ersten der ehemaligen Steinbrüche, Malá Amerika. Eine Tafel gibt Auskunft über Flora und Fauna und über das unterirdische Tunnelsystem, das alle Brüche miteinander verbindet. Die Gruben zu betreten, ist streng verboten – nur in das Wasser von Velká Amerika dürfen Besucher springen. Im Winter finden Fledermäuse in den vielen Höhlen Unterschlupf.

Ein gelb markierter Rundweg führt von Malá Amerika zum Steinbruch von Mořina, der als einziger noch heute betrieben wird. Von dort geht es weiter zum Bruch Mexiko, an dem ein Schild an die Opfer des Straflagers erinnert. Wie viele Menschen im Lager ums Leben kamen, lässt sich auf der Gedenktafel nicht mehr nachlesen, da Vandalen die Inschrift beschädigt haben.

Am Ende des Rundwegs gelangt man nach Velká Amerika, dessen Steinbruchsee mit einer Ausdehnung von 750 mal 150 Metern bei weitem der größte ist. Am See trifft man gerade im Sommer viele Ausflügler. Lauffaule können direkt bis zum Steinbruch fahren. Auf dem Plateau östlich von Velká Amerika befindet sich ein Parkplatz; von hier müssen Besucher nur noch zum Wasser hinabsteigen.

Wer von Velká Amerika zurück nach Karlštejn laufen will, sollte sich im Labyrinth der Sträucher und Pfade nicht verirren. Schnell ist man versehentlich bei Mořina den Hang heruntergekraxelt, um sich auf dem Firmengelände des Kalksteinbruchs wiederzufinden. Dem Ziel Karlštejn steht dann ein Stacheldrahtzaun im Weg, den man erst einmal überwinden muss.

Zurück in die Geschichte
Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden im Böhmischen Karst mehrere Steinbrüche, mit deren Hilfe der Bedarf der schnell wachsenden Industrie gedeckt werden sollte. So ließ die Prager Eisenindustrie-Gesellschaft im Jahr 1900 Amerika anlegen; später wurde er mit dem Kalkbruch Kozolupy zu Velká Amerika zusammengeführt. Im Südwesten wurde in den Brüchen Mexiko, Kanada und Malá Amerika ebenfalls Kalk abgebaut. Im stillgelegten Bruch Holý Vrch wollte das Ministerium für Nationale Verteidigung im Jahr 1938 ein Depot für chemische Kampfstoffe einrichten, stellte es jedoch nicht fertig. Auch die Pläne für eine unterirdische Lagerung von Rüstungsmaterial setzte es letztlich nicht um.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde bei Mexiko ein Arbeitslager errichtet, in dem zwischen 1945 und 1946 auch deutsche Kriegsgefangene interniert waren. Der Kalkabbau war jedoch schnell erschöpft und so wurden die Arbeiten eingestellt. Nach dem Krieg wurde die Prager Eisenindus­trie-Gesellschaft verstaatlicht. Aus dem Sträflingssteinbruch Mexiko machten die Kommunisten 1949 ein Arbeitslager für politische Gefangene. Es galt als eines der grausamsten Straf­lager der Tschechoslowakei; zahlreiche Menschen starben unter grausamsten Bedingungen. Inhaftierte nannten es deshalb angeblich „Böhmisches Mauthausen“ oder auch „Kalksteinhölle Mořina“.