Von Kerbhölzern und Hobby-Archäologen

Von Kerbhölzern und Hobby-Archäologen

Drei Fotografen und Autoren präsentieren in dem Bildband „Einen Moment bitte! Oder zwei?“ außergewöhnliche Schicksale. Und zeigen, dass Grenzen „unsinnig“ sind

29. 9. 2016 - Text: Helge HommersText: Helge Hommers; Fotos: Pöhnl/Haslinger

Ein betagter Mann steht in der Mitte eines großen Raumes, blickt in die Kamera und lächelt. Hinter ihm befindet sich eine Bühne, zu der fünf Stufen hinaufführen. Der Herr auf dem Foto heißt Franz Bauer, ist 86 und hat hier im Hotel Hubertus in Poběžovice das erste Theaterstück seines Lebens gesehen. Im Mai 1946 nahm man ihm an genau dieser Stelle seine letzten Habseligkeiten weg und schickte ihn fort. Poběžovice hieß damals noch Ronsperg, die Bewohner waren Deutsche wie Franz Bauer. Erst Jahrzehnte später kehrte er in die westböhmische Kleinstadt zurück, die er nie vergessen konnte und über die er inzwischen eine Ortschronik verfasst hat.

Bauer ist einer von vielen Menschen in der bayerisch-böhmischen Grenzregion, die eine außergewöhnliche Geschichte erzählen können. Einige von ihnen haben die Fotografen Johannes M. Haslinger und Herbert Pöhnl zusammen mit dem Schriftsteller Bernhard Setzwein porträtiert. Daraus entstand der Bildband „Einen Moment bitte! Oder zwei?“.

Nach Jahrzehnten kehrte Franz Bauer in den Saal des Hotel Hubertus in Poběžovice zurück.

Die Idee zu dem grenzüberschreitenden Projekt kam Haslinger und Pöhnl im Frühjahr 2014. Bald merkten sie jedoch, dass sie gar nicht genau wussten, in welche Richtung sie überhaupt gehen wollten. „Wir sind etwas zu naiv an die Sache heran­gegangen“, gesteht Pöhnl. „Im Jahr darauf erkannten wir aber, worauf wir zusteuern und merkten, dass wir einen Literaten brauchten.“ Sie kontaktierten den befreundeten Schriftsteller Setzwein, unter anderem Autor des Nietzsche-Romans „Nicht kalt genug“.

Die Auswahl der Protagonisten fiel dem Trio sprichwörtlich in den Schoß. Oft waren es Leute, die einer der drei bereits kannte, oder deren Bekannte, wodurch ein umfassendes Netzwerk entstand. Ziel war es, „möglichst viele Menschen kennenzulernen, sie in ein Gespräch zu verwickeln, etwas von ihren Meinungen und Ansichten zu erfahren“, schreibt Setzwein. Über ein Jahr waren die drei unterwegs, wie Pöhnl erzählt: „Hinter jedem Foto steckt etwa eine dreistellige Kilometerzahl.“

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Getroffen haben sie so unterschiedliche Charaktere wie den Bundesvorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft Bernd Posselt, den britischen Galeristen und Aktionskünstler Nick Treadwell und den Polier Helmut Roith. Der Oberpfälzer hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das auf tschechischer Seite gelegene und seit 1945 verlassene Grafenried auszugraben. Denn nach Kriegsende sprengten Militärs sämtliche Gebäude des ehemals deutsch besiedelten Grenzorts; den Rest verschlang die Natur. Seit der Wende legt der Hobby-Archäologe Roith die Überreste der Siedlung in mühsamer Kleinarbeit mit einer Handschaufel frei.

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Als im vergangenen Jahr immer mehr Flüchtlinge in Europa Schutz suchten, gewann das Bildband-Projekt eine unerwartete Aktualität. Die drei Künstler wollten mit ihrem Werk dazu anregen, neben den physischen auch die imaginären Grenzen abzubauen – doch in Europa wurde genau das Gegenteil diskutiert. Plötzlich war das Wieder­errichten von Zäunen und Mauern keine Illusion mehr. „Grenzen sind etwas Unsinniges“, sagt Pöhl. „Wir wollten das Unbehagen vor dem angeblich Fremden nehmen.“

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Die Erfahrung, dass selbst 27 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in der bayerisch-böhmischen Region noch Grenzen bestehen, machten auch die drei Künstler: „Sie sind massiv und nur schwer zu beseitigen. Besonders die in den Köpfen“.

Dem Schicksal Franz Bauers, der in der amerikanischen Besatzungszone als Flüchtling galt, stellen die Autoren ähnliche Lebensgeschichten gegenüber. So etwa die des Afghanen Morteza Qaderi, der ebenfalls jung seine Heimat verlassen musste. Nach langen Irrwegen landete er in Linz, wo er eine Lehrstelle antrat. Oder auch die des Poetry­slammers und Schriftstellers Jaromír Konečný, den es 1982 als 26-Jährigen aus Prag in den Westen zog. Doch warum existieren Grenzen überhaupt, fragen die drei Autoren des Bildbands und resümieren: „Ohne Grenzen keine Flucht und Vertreibung.“

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Erzählenswerte Schicksale hat das Trio jedenfalls für mehr als nur ein Werk gesammelt. Eine Fortsetzung wäre also möglich, sagt Pöhnl: „Jeder Mensch hat etwas auf dem Kerbholz und irgendeine tolle Geschichte zu berichten. So entsteht Vielfalt.“

Johannes M. Haslinger, Herbert Pöhnl, Bernhard Setzwein: Einen Moment bitte! Oder zwei? Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2016, 160 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3791727981

Eine Auswahl der im Buch verwendeten Fotografien sind bis 13. Oktober in der Repräsentanz des Freistaats Bayern (Michalská 12, Prag 1) zu sehen. Mo.–Fr. 9 bis 12 Uhr und 13 bis 16 Uhr, Eintritt frei