Durch zwei Länder und die Hölle

Durch zwei Länder und die Hölle

Das Radrennen „1.000 Miles Adventure“ führt vom westlichsten Punkt Tschechiens in den östlichsten Ort der Slowakei. Ohne Stürze und Schmerzen übersteht das niemand

31. 8. 2016 - Text: Tomáš PoláčekText: Tomáš Poláček ; Fotos: Anna Kopková/Martin Vojtuš/Martin Jilek/Jan Kopka

Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich eingelassen habe. Oder doch – ich hatte gelesen, dass es das Ultramarathonrennen namens „1.000 Miles Adventure“ gibt, einen der schwierigsten Ausdauerwettkämpfe in Europa. Aber was genau mich erwartete, konnte ich mir nicht vorstellen. Bereuen werde ich hinterher jedenfalls nichts. Denn ich werde eine Menge unglaublicher Typen kennenlernen.

Die Regeln verstehe ich bald: Man bricht am westlichsten Punkt Tschechiens auf und fährt mit dem Fahrrad auf Pfaden über Berge und durch Täler bis in den östlichsten Ort der Slowakei. Das sind 1.000 Meilen, mehr als 1.600 Kilometer. Den Weg weist dir das Navigationsgerät, ansonsten kümmerst du dich bitte schön selbst um dich, so ist das Prinzip.

Ich bin ein unterdurchschnittlicher Radfahrer und setze mir ein bescheidenes Ziel. Ich nehme mir nur eine Woche frei und will es bis an die tschechisch-slowakische Grenze schaffen. Und falls es nicht klappen sollte, dann wenigstens bis zur Hälfte, bis zur 500-Meilen-Marke, die sich im Altvatergebirge (Jeseníky) befindet.

Erste Probleme
Radfahren kann ich. Mit meiner sechsjährigen Tochter fahre ich in Prag manchmal an der Moldau entlang bis zum Zoo. Da gibt es aber keine Steigung und man muss fast nicht schalten, während es jetzt, nach dem Start in Tschechiens westlichster Kleinstadt Hranice nahe Aš, sofort bergauf geht. Es tritt sich schwer.

An mir fährt der 36-jährige Radek Musil vorbei, einer der Favoriten. In der Kneipe hat er mir erzählt, dass er dieses Jahr schon 5.000 Kilometer gefahren ist (aber dort waren auch Athleten, die seit Januar angeblich schon das Dreifache geschafft haben). Ans Ziel will er in etwa acht Tagen kommen und hat beschlossen, heute die Nacht durchzufahren. Während des Rennens werde ich ihn wohl nicht mehr sehen, aber später wird er mir davon berichten: „Der Start war um drei Uhr nachmittags und die Erschöpfung überkam mich genau 24 Stunden später in den Sandsteinfelsen über Hřensko. Ich setzte mich in eine Hütte für Holzfäller, stellte den Wecker, verschnaufte eine Stunde und fuhr weiter. In den folgenden Nächten schlief ich meistens vier Stunden, in der Slowakei dann länger, weil man dort in der Dunkelheit manche Gebiete wegen der Bären nicht betreten darf.“

Überraschenderweise scheide ich nicht als Erster aus. Früher erwischt es zum Beispiel den Rollerfahrer Pavel, was mir leidtut, denn wir haben uns unterwegs angefreundet. Ich fuhr ein bisschen schneller, aber er stand dafür schon in der Dämmerung auf (ich habe das abends zwar auch versprochen, quälte mich dann aber doch erst um sieben Uhr aus dem Schlafsack). Deswegen habe ich Pavel im Erzgebirge öfter getroffen und kenne seine Geschichte: Er absolvierte das Rennen bereits zweimal mit dem Fahrrad, einmal schaffte er die Strecke in ausgezeichneten zwölfeinhalb Tagen. Dann stieg er irgendwann auf Roller um.

Als wir uns am dritten Tag irgendwo bei Cínovec (Zinnwald) unterhalten, gibt er zwar zu, dass ihm die Achillessehne ein bisschen schmerzt, doch er sieht zufrieden aus. Auf besser befestigten Wegen ist es für Pavel kein Problem, bergab auf 50 Stundenkilometer zu kommen, dennoch lasse ich ihn schließlich hinter mir und erfahre erst später, was passiert ist: Ohne Probleme legte er 500 Kilometer zurück bis ins Isergebirge, zum ersten von drei Kontrollpunkten, an denen die Organisatoren mit einer Erfrischung und guten Worten auf die Teilnehmer warten.

Pavel hätte nicht aufgegeben, wenn nicht sein Roller auseinandergefallen wäre. „Wahrscheinlich Materialermüdung“, sagt er. Ein paar Radfahrer halfen ihm zwar, den Roller notdürftig zu reparieren, doch er war nur ein wenig zusammengeklebt, damit er bis zum nächsten größeren Ort Harrachov durchhält. Dort wollte er sich einen Ersatzroller besorgen, fand aber keinen. „Also blieb mir nichts anderes übrig, als in den Zug heim nach Pardubice zu steigen, wo ich mir einen neuen Roller bestellt habe. Damit wollte ich zurück nach Harrachov, aber nachdem ich dreimal umsteigen musste, habe ich mein Navi in irgend­einem Zug liegen lassen.“

Ohne Navigationsgerät läuft beim „1.000-Meilen-Rennen“ nichts. Die Teilnehmer wissen nicht, wo es langgeht und der Veranstalter kann nicht kon­trollieren, ob sie die vorgegebene Strecke wirklich zurückgelegt haben.

Ente mit Würstchen
Ich gewöhne mich irgendwie daran, den ganzen Tag auf dem Rad zu sitzen – und an die Gewissheit, dass ich so weit kommen werde, wie ich geplant habe. Der Weg führt größtenteils direkt an der Grenze zu Deutschland entlang. Das Teilnehmerfeld ist mittlerweile so zerrissen, dass ich manchmal vier Stunden lang niemanden sehe. Es gibt nur mich, die Berge, Pilze und so viele Heidelbeeren, dass sie mir schon gar nicht mehr schmecken.

Bei den größeren Steigungen schiebe ich mein Rad, aber bergab rollt es wunderbar, solange der Weg nicht durch ein Bachbett führt. Dann schimpfe ich laut auf die Sadisten, die sich die Strecke ausgedacht haben. Alle halbe Stunde setze ich mich auf einen Baumstumpf und alle vier Stunden komme ich an einer Kneipe vorbei, wo ich mir gleich zwei Portionen bestelle. „Einmal die Ente mit Kraut und dazu die Würstchen mit Brot, bitte.“ Ob ich ein Teilnehmer des Rennens sei, lautet die Antwort auf die Bestellung. „Das Essen kommt gleich.“

Ich fahre weiter. Als mich der Fußweg mit den vielen Wurzeln schon schafft, kommt ein Wiesengrund; als ich keine Wiesen mehr sehen kann, geht es durch Felsen; und als ich genug von den Felsen habe – beginnt der Albtraum. Wie ein Lastenesel schleppe ich mich auf den Hohen Schneeberg bei Děčín hinauf. Weit unter mir schlängelt sich die Elbe; es sieht aus, als wäre ich gleich dort. Jetzt muss ich nicht einmal treten, nur leicht bremsen, sage ich mir. Doch statt einer erfrischenden Abfahrt erwartet mich der Horror, denn der Weg führt über Steinblöcke und Felsen. Meistens trage ich mein Rad und bete, dass ich nicht in die Schlucht stürze. Die 20 Kilometer bis Hřensko kosten mich drei Stunden, in denen ich oft an das Tandem mit dem blinden Vašek Fišer denke.

Der Masseur aus Opava ist nicht nur von Geburt an blind, sondern hört auch noch schlecht und redet nicht gerade viel. Deswegen spricht sein Tandempartner und Trainer Aleš Procházka mit mir, der die beiden angemeldet hat. Sie haben sich gewissenhaft vorbereitet. Seit Januar sind sie gemeinsam 1.200 Kilometer gefahren. Doch gleich nach dem Start erwarteten sie ganz andere Probleme. Erst riss die Kette und als sie repariert war, hatten die beiden den Anschluss an die anderen Radler verloren. „Ich musste mich auf das Navi verlassen, mit dem ich keine Erfahrung hatte, außerdem schien die Sonne direkt auf den Bildschirm.“ Aleš und Vašek landeten zum Staunen der Organisatoren nach zwei Stunden wieder am Startort.

Sie versuchten es noch einmal, weit hinter den anderen und im Regen. In der Dämmerung löste sich vorne ein Gepäckträger, dabei gingen beide Vorderradbremsen kaputt. „Zumindest die vordere Scheibenbremse konnten wir schließlich wieder reparieren.“

Aufgebrochen sind die beiden wie auf eine Expedition in den Dschungel. Sie haben sogar einen Campingkocher mitgenommen. „Wir sind zwölf Stunden gefahren und haben uns abends Tütensuppen gemacht, dann zwei Konserven geöffnet und vermischt, zum Beispiel Schweinefleisch und Leberpastete. Danach gab es Kaffee und wir gingen schlafen.“

Durch die Felsen um Děčín haben sie es geschafft und auch durch den Schluckenauer Zipfel, den nördlichsten Ort des Landes. Aber zwischen Adršpach und dem Glatzer Schneeberg (Králický Sněžník) konnte Vašek nicht mehr. Sein Körper war einfach erschöpft, also strampelte vor allem Aleš. Er sagte seinem Mitfahrer: „Ich bringe dich ins erste Restaurant von Dolní Morava, dort isst du dich satt, ruhst dich aus und wir fahren weiter.“ Nach 20 Tagen und 500 Meilen kamen die beiden in Františkov im Altvatergebirge an, wo sie wie viele Teilnehmer das Rennen beendeten.

Erzählen Sie!
Nach dieser Geschichte kommt es mir banal vor, zu beschreiben, wie ich im Schluckenauer Zipfel selbst fast umgekommen wäre: Auf einem fünf Kilometer langen Abschnitt über das sogenannte Nordkap schiebe ich mein Rad mindestens drei Stunden durch Gebüsch und über Wurzeln. Als ich das erste Wirtshaus erreiche und mich an einen Tisch setze, schlafe ich sofort ein. Obwohl ich immer stärker nach Schweiß stinke, bekomme ich in vielen Kneipen Essen und Getränke billiger und muss immer wieder berichten, wie das Rennen läuft.

„Ich bin ein miserabler Radfahrer, die Spitze des Feldes ist irgendwo 400 Kilometer weiter vorne“, sage ich. „Das macht nichts, erzählen Sie! Oder kommen Sie mit in die Küche, damit der Koch es auch hört, der ist so begeistert davon und will irgendwann auch teilnehmen.“

Täglich komme ich an Hütten und Landhäusern vorbei, wo den Teilnehmern des Rennens kostenlose Getränke angeboten werden. Einmal steht einfach ein Tisch am Wegrand, darauf ein Krug mit kaltem Wasser, Salzstangen und Bananen. Wenn ich jeden zweiten Tag in einer Baude schlafen und duschen möchte, zahle ich absurd niedrige Preise und finde frühmorgens Süßigkeiten vor meiner Tür.

Siebzig plus
Es war dumm von mir, dass ich am Anfang glaubte, der 70-jährige Jan Vlasák würde nicht einmal bis zur 500-Meilen-Marke kommen. Er schaffte das ganze Rennen, nach genau drei Wochen erreichte er das Ziel. Manchmal fühlte er sich unterwegs wie im Fegefeuer. „Ich konnte schon allein wegen meiner Freunde nicht aufgeben, die mich unterstützt haben.“ Aber manchmal überlegte er, ob nicht sein Rad kaputtgehen könnte – dann hätte er einen Grund gehabt, auszusteigen.

Vlasák war schon immer gern mit dem Rad oder zu Fuß in der Natur unterwegs. Nach der Wende ist er um die halbe Welt geradelt und hat fünf Bücher darüber geschrieben. Diesmal hat ihn eine Woche nach dem Start der Starkregen in der Slowakei erwischt. „Das war ein kalter Regenguss mit Sturmwind. Aus den Wiesen wurden Sümpfe. Der Schlamm klebte am Fahrrad. Einmal hat mich das so fertig gemacht, dass ich mir sogar ein Zimmer für zwölf Euro genommen habe. Das war die einzige Nacht, für die ich bezahlt habe.“

Wer nicht dabei war, meint Vlasák, dem könne man kaum erklären, warum das Rennen eine Droge sei. „Der Begründer der Veranstaltung Honza Kopka hat vielleicht Recht, wenn er sagt: Je schlimmer, desto besser. Denn je mehr man sich auf der Strecke quält, desto größer ist der Eindruck, den das Rennen hinterlässt.“

Trockene Unterhosen
Ich bin am fünften Tag erst auf dem Weg vom Isergebirge ins Riesengebirge. Ich verfahre mich und falle völlig desorientiert in einen Dornbusch. Dann geht es auf der polnischen Seite am Kamm entlang. Eine Hütte ist weit und breit nicht in Sicht, als ein Gewitter aufzieht. Ich bin völlig durchgefroren, als mir irgendein Pole nach einer Stunde im Regen ein Zimmer anbietet. Dort schlummern bereits zwei tschechische Touristen. Als sie sehen, wie ich zittere, verpassen sie mir ein trockenes T-Shirt und eine Unterhose, was ich sehr schätzte, denn ich habe nichts Trockenes mehr zum Anziehen. Und während vor mir noch das Riesengebirge liegt, sind die richtigen Radfahrer schon in der Slowakei.

Nicht schneller als die Engel
So auch Blanka Nedvědická. Sie absolviert das „1.000-Meilen-Rennen“ zum ersten Mal und erreicht nach elf Tagen und 19 Stunden als erste Frau das Ziel. Nach einem Unfall musste sie im Februar am Knie operiert werden; kurz vor dem Rennen schickten die Ärzte sie zur Kur. „Ich fuhr ins Altvatergebirge und trainierte dort ein bisschen. Von der Versicherung bekam ich Geld für das Knie, davon habe ich mir im letzten Moment noch ein neues Rad gekauft. Es wiegt nur zehneinhalb Kilo, das alte Rad wog 14.“

Blanka ging das Rennen anders an als der schnellste männliche Teilnehmer. Vor allem am Anfang legte sie Pausen ein, um Heidelbeeren oder Wald­erdbeeren zu pflücken. Sie nahm die Natur bewusst wahr. „Das Tollste ist für mich die Mischung, körperlich angespannt zu sein und dabei die Schönheit der Landschaft zu erleben.“

Sie war vorsichtiger als die meisten Männer, trotzdem stürzte sie einmal schwer. „Neben mir fuhr ein Teilnehmer namens Tomáš, dem erzählte ich gerade, wie mir eine Freundin ein Bändchen schenkte, auf dem stand: ,Sei niemals schneller als dein Schutzengel‘ – in dem Moment fiel ich und schlug mir den Kopf.“

Ein zweites Mal rutschte ihr das Rad bei einer Abfahrt über eine nasse Wiese in der Niederen Tatra weg. Die Lenkstange prallte gegen ihre Rippen. „Ich dachte, ich habe mir etwas gebrochen, deshalb habe ich mich am Tag nach der Ankunft zu Hause in Jablonec röntgen lassen. Die Rippe war nur geprellt, aber ich musste zwei Tage im Krankenhaus bleiben, mein Körper war ganz geschwollen, weil er während des Rennens an Flüssigkeitsmangel litt und dann das Wasser zurückhielt.“

Als sie wenige Tage zuvor das Ziel erreichte, war sie froh, endlich dem Regen zu entfliehen. Sonst hätte sie ruhig noch weiterfahren können, meint sie, nach elf Tagen habe sie sich schon daran gewöhnt.

Den Sieg und Buchteln in der Tasche
Der schnellste Mann ist am Ende tatsächlich Radek Musil aus der Nähe von Jihlava, der nach acht Tagen und zwei Stunden durch den Zielbogen fährt. Als ich ihn später nach dem schwierigsten Moment frage, antwortet er: „Am schlimmsten war es vor dem Rennen am Bahnhof in Jihlava, weil meine Frau beschlossen hatte, mich mit unseren Töchtern dorthin zu begleiten. Und ich hasse Abschiede.“

Im Ziel hatte er riesige Augenringe und wog fünf Kilo weniger als beim Start, sonst ging es ihm halbwegs gut, obwohl ihm die Hüfte und die Rippen schmerzten – denn auch er stürzte mehrmals über den Lenker. „Gleich drei Mal in der ersten Nacht, das waren alles Fahrfehler, weil ich das Rennen mutiger angegangen bin als ich sollte.“

Im Schnitt fuhr er 18 Stunden am Tag, fast ohne Pausen. Nur ab und zu kehrte er in Kneipen ein, um schnell drei halbe Liter alkoholfreies Bier zu trinken. Kekse und Buchteln hatte er in den Taschen seines Trikots.

Er hatte Glück mit dem Wetter, mit der Gesundheit, traf keinen Bären und konnte sich auf die Technik verlassen. Im Ziel dachte er an seine Familie und dass es gut sei, die Schinderei überstanden zu haben. „Erst eine Woche später bin ich wieder mit dem Rad zur Arbeit gefahren, etwa 17 Kilometer hin und 17 zurück.“

Seinen Preis, ein besonderes gelbes Trikot, wird er vielleicht irgendwann einmal tragen, aber er weiß noch nicht genau. „Nächstes Jahr werde ich die 1.000 Meilen sicher nicht darin fahren – ich werde sie nämlich überhaupt nicht fahren, sondern als Freiwilliger an den Kontrollpunkten helfen und mir die Geschichten der anderen anhören. Ich will das Rennen auch aus dieser Perspektive kennenlernen.“

Der Artikel erschien zuerst auf Tschechisch im Magazin „Reportér“ (August 2016). Übersetzung: Corinna Anton