Der Abgrund in uns

Der Abgrund in uns

Regisseur Ulrich Seidl erklärt beim Prager Febiofest, wie seine Filme funktionieren

20. 3. 2013 - Interview: Stefan Welzel

Seit rund 30 Jahren erzählt der österreichische Filmemacher Ulrich Seidl Geschichten aus einem ganz besonderen Blickwinkel. So schonungslos, authentisch und provozierend wie er dreht kaum ein anderer Dokumentar- und Spielfilme. Diese fordern die Schamgrenzen der Protagonisten genauso heraus wie jene der Zuschauer. In Prag präsentiert der 61-jährige Wiener mit „Paradies: Hoffnung“ den letzten Teil seiner Trilogie, in der Menschen mit sich und ihrer Einsamkeit kämpfen – und dabei letztlich nichts anderes als Zuneigung und Liebe suchen. PZ-Redakteur Stefan Welzel sprach mit Seidl über die Motive seiner Bildsprache, den Sinn der Kunst und die Zensur in den Köpfen seiner Schauspieler.

Ihre Art der Inszenierung ist sehr direkt, ungeschminkt und authentisch. Ist das ein gewollter Anti-Pol zur weitverbreiteten pathetischen „Bigger than Live“-Attitüde des modernen Kinos?
Seidl: Nein, das kann man so nicht sagen. Es ist eher etwas, das ich für mich ohne Absicht entwickelt habe, etwas ganz Eigenes finden zu wollen. Mein Ansatz war, Geschichten mit meinem eigenen Blick auf die Welt zu erzählen. Dabei war mir immer das Direkte, Unmittelbare und Dokumentarische wichtig. Gleichzeitig hatte ich den Willen, dies in einer persönlichen Bildsprache zu vermitteln. Der dokumentarische Charakter meiner Spielfilme führt dann dazu, dass der Zuschauer miteinbezogen wird, sofern er sich nicht dagegen wehrt. Er wird hineingezogen in eine Welt, mit der er selbst viel zu tun hat.

Haben Sie ein bestimmtes Ziel­publikum?
Seidl: Ich denke bei Beginn eines Projekts nie daran, an wen sich das Werk richten könnte. Wenn ich richtig liege und meinen Job gut erledige, dann wird es immer Zuschauer geben, die sich für den Stoff interessieren und meinen Blick verstehen und teilen. Was ich bei der Paradies-Trilogie allerdings feststelle, ist, dass plötzlich Menschen ins Kino gehen, die dort schon lange nicht mehr waren und ich somit einen neuen Zuschauerkreis anspreche. Bei „Paradies: Liebe“ sind das vor allem ältere, reifere Frauen. Bei „Paradies: Hoffnung“ kommen sehr viele junge Menschen. Im besten Fall sieht jeder Zuschauer seinen eigenen Film. Das hängt von der Wahrnehmung und den Werten eines jeden Einzelnen ab. Je nach Stimmung, je nachdem, wie ein Schauspieler einen berührt oder nicht, versteht man den Film anders. Und das ist es, was ich will: den Zuschauer berühren, auch wenn dies zuerst einmal durch Provokation und verstörende Elemente erreicht wird.

In einem Fernsehinterview sagten Sie kürzlich: „Wir alle sehen uns und unserer eigenen Abgründe nicht gern im Spiegel an.“ Warum wollen Sie derjenige sein, der diesen Spiegel hält?
Seidl: Weil ich mit meinen Filmen etwas bewirken will. Kunst ist nicht dazu da, um Bestehendes zu bestätigen, sondern um Irritationen und Kontroversen auszulösen. Meine Filme sollen etwas Konstruktives darstellen, das zu Erkenntnissen führt. Sie sind nicht einfach nur Entertainment, sondern Mittel und Weg zur Schaffung eines Mehrwertes.

Ist damit auch politische oder eher gesellschaftliche Kritik beabsichtigt?
Seidl: Natürlich handelt es sich auch um Gesellschaftskritik. Es geht um Abgründe, die in uns allen vorhanden sind. Ich nehme mich da gar nicht aus. Ich sehe mich oft selbst in meinen Figuren. Deswegen urteile ich auch nicht, es gibt keine Wertung. Ich moralisiere nicht, sondern zeige Menschen in ihrer Einsamkeit und wie sie versuchen, aus dieser auszubrechen. Und ich möchte zeigen, wie der Mensch dem Menschen das Leben zur Hölle machen kann.

Durch die Authentizität ihrer Werke erzielen Sie den Effekt, dass die Distanz zum Film als ein Geschehen auf der Leinwand aufgehoben wird.
Seidl: Genau das ist mein Ziel. Der Zuschauer soll sich selbst wiedererkennen. Ob er das als angenehm empfindet oder nicht, ist seine Sache. Doch der Film hat somit funktioniert. Später wird sich der Zuschauer darüber Gedanken machen und mit anderen in eine Kontroverse einsteigen. Alles Gezeigte hat mit uns allen zu tun und beschränkt sich übrigens nicht nur auf den österreichischen Kulturraum.

Nichtsdestotrotz spielen all ihre Werke hauptsächlich in Österreich oder mit Österreichern. Können Sie sich auch mal vorstellen, in einem der nächsten Projekte woanders zu drehen, zum Beispiel in Deutschland oder der Schweiz?
Seidl: Das hat nur Sinn, wenn es dem Projekt dient. Natürlich ist die Atmosphäre meiner Filme  stark österreichisch geprägt. Aber ich denke, diese Lebensart ist schon eine typisch westliche. Somit sind die Geschichten zumindest für einen bestimmten Teil der Welt allgemeingültig. Ob die Sugar-Mama in „Paradies: Liebe“ aus Österreich, Schweden oder der Schweiz kommt, ist letztendlich egal. Natürlich ist es interessant, an anderen Orten außerhalb Österreichs zu drehen. In „Import/Export“ musste ich mich in die ukrainische Lebenswelt eindenken, in „Paradies: Liebe“ in eine afrikanische.

Sie arbeiten mit Drehbüchern, die ohne festgeschriebene Dialoge auskommen. Somit überlassen Sie den Schauspielern viel Freiraum zur Improvisation. Wie läuft das vor Ort am Set ab?
Seidl: Ich gebe bestimmte Situationen, Themen und Stichworte vor. Da gibt es schon Parameter, in welchem Rahmen das stattzufinden hat. Erstens sollte der Schauspieler wissen, welchen Part er genau spielt. Das passiert in der Vorbereitungszeit. Dabei kann er auch seine eigene Persönlichkeit mit einbringen. Und dann gibt es meine Absicht. Ich sage den Schauspielern, dass ihre Figur mit einer bestimmten Intention in eine Szene geht. Sie wissen dann nicht, wie das Gegenüber reagieren wird. Darin besteht die Improvisation. Aber natürlich lasse ich oftmals Szenen wiederholen um korrigierend einzuwirken.

Sie arbeiten oft mit Laien-Darstellern, daneben auch immer wieder mit denselben Profi-Schauspielern. Das hat sich anscheinend bewährt.
Seidl: Es gibt keinen Grund, Schauspieler nicht mehr zu nehmen, wenn sie gut sind – außer man hat keine Rolle für sie. Für meine Filme kommen nicht allzu viele Schauspieler in Frage. Denn die wenigsten können gut improvisieren und sind bereit, Grenzen zu sprengen, ungeachtet ihrer eigenen Persönlichkeit. Margerete Tiesel zum Beispiel wusste, dass sie in „Paradies: Liebe“ oft nackt zu sehen sein wird und sich mit schwarzen Männern einlassen muss. Das geht nur, wenn die Akteure ohne Zensur im Kopf spielen. Da gibt es nicht viele, die das machen.