Identitätssuche mit Abgründen

Identitätssuche mit Abgründen

Daniel Goetsch spielt in seinem Roman „Ein Niemand“ mit erzählerischen Stilmitteln. Und überrascht den Leser am Ende mit einer unerwarteten Wende

11. 8. 2016 - Text: Helge HommersText: Helge Hommers; Foto: Silviu Gogulescu/CC BY-NC-ND 2.0

 

In der Flughafenwache Tegel wartet ein Mitte 30-jähriger Mann auf seine Vernehmung. Ihm wird vorgeworfen, ohne gültigen Reisepass nach Deutschland reisen zu wollen. „Sie geben an, die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen. Aber Sie werden verstehen, dass wir in diesem Punkt unsere Zweifel haben. Ihr Pass weist Sie eindeutig als Rumäne aus. Ihr Name lautet Ion Rebreanu“, so der Beamte zu dem mysteriösen Fremden. Daraufhin antwortet der Festgehaltene: „Das ist ein Missverständnis. Das habe ich den Polizisten schon hundertsiebzig Mal erklärt. Ich heiße Tom Kulisch. Ich bin Deutscher. Ich lebe normalerweise hier in Berlin.“

Mit dieser Szene beginnt der Schweizer Schriftsteller Daniel Goetsch seinen Roman „Ein Niemand“. Sie erinnert stark an Max Frischs „Stiller“, in dem sich der Ich-Erzähler am Anfang gegen seine Festnahme wehrt. Ebenso wie in Frischs Klassiker, rollt Goetschs Protagonist im Folgenden seine Lebensgeschichte auf und berichtet von den Umständen, die zu seiner Festnahme geführt haben.

In „Ein Niemand“ übernimmt diese Rolle der Übersetzer Tom Kulisch, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt. Auf dem Tiefpunkt angekommen, wird er zufällig Zeuge eines Unfalls. Kulisch sieht dem verstorbenen Opfer zum Verwechseln ähnlich. Ohne genau zu wissen, was passiert, schlüpft er in dessen Identität. Für Kulisch ein willkommenes Geschenk, kann er doch so die Probleme seines alten Lebens hinter sich lassen. Dass sich ihm dadurch allerdings neue Hürden in den Weg stellen, wird ihm schnell deutlich, als er auf die Geliebten seines Doppelgängers trifft und an eine Gruppe von Aktivisten gerät, die hinter einem skrupellosen Immobilien-spekulanten her ist.

Das Verhör, das Kulisch über sich ergehen lassen muss, zieht sich über sechs Tage hin und bildet den roten Faden der Handlung. Der Ermittler ist in den nur wenige Seiten langen Passagen der Erzähler, dem wiederholt Zweifel an der Geschichte seines Gegenübers kommen. In der eigentlichen Handlung wird das Geschehen hingegen von einem Erzähler geschildert, der nicht Teil der beschriebenen Welt ist. In diesen Rückblenden tauchen weitere Binnenerzählungen auf, sodass ein kompliziertes Geflecht auf drei Zeitebenen entsteht.

Auch der Ort der Handlung lässt sich nicht nur auf einen Schauplatz reduzieren. Kulischs Identitätssuche führt ihn von Berlin über Prag, wo sein Doppelgänger in der Altstadt eine Wohnung besaß, bis nach Bukarest. In der rumänischen Hauptstadt finden sich Ion Rebreanus Wurzeln und, so hofft Kulisch, auch die Lösung, weshalb es diesen eines Tages nach Berlin verschlug. Goetsch, der mit „Ein Niemand“ seinen fünften Roman veröffentlicht hat, schafft es trotz der unübersichtlichen Erzählebenen, den Leser nicht verwirrt im Handlungsgeschehen zurückzulassen.

Außerdem kreiert der Autor auf sprachlicher Ebene eine düstere Atmosphäre, die die Abgründe des Protagonisten in beeindruckenden Satzkonstruktionen wiedergibt. Der Leser erhält zugleich einen präzisen Einblick in die enttäuschten Hoffnungen und Ungerechtigkeiten, mit denen sich die Bewohner der ehemaligen Ostblockstaaten nach der Wende konfrontiert sahen. Sowohl Prag als auch Bukarest, die häufig als „Märchenstädte“ in der Literatur auftauchen, beschreibt Goetsch in all ihrer Hässlichkeit.

Im Prager Abschnitt, der den Großteil des Romans umfasst, verschwimmen die Identitäten von Kulisch und seinem Alter Ego Rebreanu endgültig. Anfangs fragt sich Kulisch lediglich, was sein Doppelgänger in gewissen Situationen tun würde. Wenig später denkt er bereits wie Ion, der in Prag Jan oder Iwan genannt wird. Bald wird deutlich, dass der Verstorbene längst nicht der war, für den ihn seine Bekannten hielten.

Wiederholt taucht bei Kulischs Recherche „der dritte Weg“ auf, unter dessen Bezeichnung der tschechoslowakische Vizeministerpräsident Ota Šik während des Prager Frühlings Wirtschaftsreformen plante. Kulisch gerät an ehemalige Exilanten, die mit diesem Konzept nach der Wende neue Wege beschreiten wollten, von einer zwielichtigen Person namens Schwartz jedoch daran gehindert wurden. Irgendwann ist Kulisch bereit, ebenjenen Widersacher zu ermorden. Zugleich verfällt er Doina, einer von Ions Freundinnen, obwohl er sie nur von einer Fotografie und vielen Postkarten her kennt. Wer hinter Doina steckt und was Wahrheit und was Lüge ist, klärt Goetsch erst am Ende des Buches auf. Dabei bleibt der große „Aha-Effekt“ aus. Und doch belohnt Goetsch den Leser mit einer Wendung, nach der sich ein Zurückblättern und eine erneute Lektüre geradezu aufzwingen.

Daniel Goetsch: Ein Niemand. Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 222 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 978-3-608-98021-9