„In Prag kann man jeden Tag Tango tanzen“

„In Prag kann man jeden Tag Tango tanzen“

Warum ein Deutscher den Tango ausgerechnet in Prag lehrt und damit Erfolg hat

29. 10. 2014 - Text: Klaus Hanisch

Er hat gerade ein kleines Studio in Žižkov gekauft. Noch lebt und arbeitet Jörg Palm (39) jedoch in einem imposanten Altbau mitten in Prag, in der Spálená-Straße. Eines seiner vier Zimmer mit hohen Decken dient ihm als kleiner Tanzsaal. Ein sehr persönliches Gespräch bei einer Tasse grünen Tee und Obstkuchen von PZ-Reporter Klaus Hanisch mit einem Deutschen aus Aachen, der Tango in Prag unterrichtet.

Das erste Mal bin ich im Frühjahr in einer Prager Bierstube unweit des Karlsplatzes auf Sie aufmerksam geworden, dort unterhielten Sie sich gegen zwei Uhr morgens mit Gästen über das Tanzen. Eine ungewöhnliche Zeit an einem ungewöhnlichen Ort dafür.

Jörg Palm: Auch nach einem Tango-Abend kommt die Frage: Gehen wir noch auf ein Bierchen? Gerade in Prag. Eine Milonga, also eine Tango-Veranstaltung, ist meist nach Mitternacht zu Ende und danach suchen die Teilnehmer gerne noch gemeinsam ein Lokal auf.

Ist Prag auch eine Tango-Stadt?

Palm: Im Moment gibt es jeden Tag eine Milonga in Prag. Das heißt, jeden Tag kann man in Prag Tango tanzen gehen! Und ein paar Verrückte machen das auch. Jeden Montag zum Beispiel in einem Gebäude gegenüber dem Palladium. Oder donnerstags in einem Café in der Národní. Gestern gab es eine Milonga in der Eingangshalle des Masaryk-Bahnhofs.

Die Züge haben nicht gestört?

Palm: Nö, die Musik war lauter. Bandoneon, Gitarre und Gesang. Es gibt über 200 Leute in Prag, die regelmäßig Tango tanzen. Und es kommen Besucher nach Prag, die hier auch nach einer Milonga suchen.

Ein paar Wochen nachdem ich Sie das erste Mal gesehen hatte, berichteten mir Bekannte in einer fränkischen Kleinstadt von einem deutschen Tangolehrer in Prag. Also von Ihnen. Leben Sie vor allem von Mundpropaganda?

Palm: Etwa zu 90 Prozent. Ich mache nicht viel Werbung. Mein Ziel war, ab 2013 ein Jahr lang zu prüfen, ob ich hier davon leben kann. Ich konnte gleich in einer Prager Tanzschule in der Korunní-Straße unterrichten und habe auf Facebook fast 1.800 Freunde. Dort kamen die ersten Anfragen. Jetzt habe ich zu etwa 80 Prozent Tschechen als Schüler, ebenso Deutsche oder Griechen, die hier zum Teil leben. Es gibt fast keinen anderen professionellen Tangolehrer in Prag. Um davon leben zu können, hat es aber fast ein dreiviertel Jahr gebraucht.

Sie lehren nur noch Tango?

Palm: Im Moment bin ich mit Tango voll ausgelastet. Im Normalfall tanze ich zwischen fünf und zehn Stunden am Tag. Ich lebe das komplett. Bevor Sie kamen, habe ich mit einer Kollegin eineinhalb Stunden getanzt, nachher halte ich Privatstunden ab und anschließend drei Stunden Gruppenunterricht in der Tanzschule bis zehn Uhr abends. Dann gehe ich zu einer Milonga, dort tanze ich noch bis zwölf oder halb eins.

…und gehen auch noch auf Turniere?

Palm: Nein, ich tanze Shows, gebe Workshops und Unterricht, manchmal organisiere ich auch Events wie die Oster-Milonga dieses Jahr im Lucerna-Palast. Damit bin ich ausgelastet.

Schon im September wollte ich Sie treffen, doch es hieß, dass Sie gerade in Buenos Aires seien, in der Welthauptstadt des Tango. Zur Fortbildung?

Palm: Ich war schon vor zwei Jahren dort, jetzt wieder einen Monat lang, habe Unterricht bei verschiedenen Lehrern genommen, die Tango-WM angeschaut, Shows und Konzerte besucht. Es gibt ultraviele Tango-Lehrer und -Schulen dort, man bekommt einen riesigen Input, an dem man vier, fünf Monate lang weiter arbeiten kann.

Wieso unterrichten Sie Tango ausgerechnet in Prag?

Palm: Ich habe meine Partnerin Marie in Franken kennengelernt, wo sie in einer Praxis als Physiotherapeutin arbeitete. Sie besuchte dort auch eine Milonga, wo Tango Argentino getanzt wird, und traf meinen Freund. Auf seinen Vorschlag hin verabredeten wir uns und tanzten anschließend jeden Tag mehrere Stunden. Manchmal sogar in der Praxis des Physiotherapeuten und bis morgens um eins. Sie hatte schon viel Tango-Erfahrung, durch sie kam ich erst richtig zum Tango. Nach ein paar Monaten waren wir ein Paar. Sie kam aus Prag, hierher sind wir gemeinsam gegangen.

Was macht den Tango für Sie so besonders?

Palm: Tango war immer ein besonderer Tanz, aber für mich irgendwie nicht mehr original. Bei einer German-Open-Veranstaltung merkte ich, dass immer nur „höher, schneller, weiter“ nicht mehr der Musik entsprach. Sie wurde zudem auf Big-Band-Instrumenten gespielt und klang für mich wie ein Marsch. Dadurch kamen härtere und schnellere Bewegungen zustande, etwa diese ultraschnellen Kopfbewegungen. In Berlin entdeckte ich später mit meiner Partnerin den Tango Argentino, den ursprünglichen sanften weichen Tango mit Orchester und Sänger. Das ist ein ganz anderer Tanz. Die Figuren sind nicht annähernd identisch. Ich nahm Privatstunden, besuchte Festivals und merkte für mich, dass Tango die absolute Freiheit ist.

Freiheit von was?

Palm: Ich kann zu der Musik so tanzen, wie die Musik eben spielt. Ich habe keinen Grundschritt und diesen oder jenen Rhythmus, sondern ich kann variieren. Ich kann so viel oder so wenig drehen wie ich will. Es gibt zwar auch hier tänzerische Prinzipien, aber im Tango geht es vor allem um Improvisation. Und nicht um einen Grundschritt, Drehung links, Drehung rechts, fertig ist die Figur. Man tanzt im Tango passend zur Musik und nicht automatisch wie ein Roboter.

Sie definieren Tango aus rein tänzerischer Sicht. Dabei wird doch gerade ihm eine hohe emotionale Kraft zugeschrieben, gar philosophische Bedeutung.

Palm: Man kann es natürlich auch so sehen, dass Tango eine besonders aktive Verbindung und eine spezielle Lebensart ist. Aber Tango ist ein Tanz. Und ein Tanz ist nur eine möglichst harmonische Bewegung zweier Menschen auf Musik und ein Dialog zwischen Führung und Folgen.

Warum dann diese verschiedenen Interpretationen von Tango?

Palm: Praktisch jeden anderen Tanz tanzt man auf Abstand, den Tango aber Wange an Wange. Man umarmt jemanden sehr eng. Wenn man das einige Minuten lang macht, kommt ein Gefühl der Gemeinsamkeit und Geborgenheit auf. Man empfindet anfangs noch Scham oder Angst, weil man so eng verbunden ist, überwindet dann aber eine Distanzzone des normalen Lebens. Und dann erleben Menschen auch intime Gefühle. Das hatte ich auch, diesen typischen „Tango-Orgasmus“, wenn man sich bei diesen engen Berührungen – zumal noch mit einem fremden Tanzpartner – nach einer gewissen Zeit fragt: Ist das einfach nur Bewegung zur Musik oder eventuell schon mehr?

Also ist Tango doch nicht nur ein Tanz?

Palm: Wenn man es intensiv betreibt, wird Tango sicher auch zu einem Selbsterfahrungskurs. Wie ein Seminar, wo sich Leute umarmen oder weinend in den Armen liegen. Man muss sich beim Tango ein großes Stück weit öffnen, sonst funktioniert es nicht. Spüre mich, fühle mich, egal ob ich schwitze oder nicht, dazu muss man anderen gegenüber bereit sein. Und dadurch können tiefere Gefühle entstehen. So tief, dass Leute ihre Partnerschaft überdenken, sich scheiden lassen, ihr Leben verändern und zum Beispiel den Kauf einer neuen Uhr als plötzlich nicht mehr so wichtig erachten, sondern glücklich sind mit dem was ist. Es passiert im Tango eine ganze Menge!

Sollte man Tango daher immer nur mit dem gleichen Partner tanzen, um eine Beziehung nicht zu gefährden?

Palm: Wenn man eifersüchtig ist, darf man mit Tango überhaupt nicht beginnen! Immer der gleiche Partner geht bei einem Tanzkurs, aber nicht bei einer Milonga. Dort gibt es nach ein paar Musikstücken ein Break, dann wechselt man seinen Partner. Es ist ein provoziertes Tauschen. Die Idee ist: Wir teilen uns mit und wir tauschen uns mit anderen Menschen aus.

Und das können alle Teilnehmer problemlos akzeptieren?

Palm: Am Anfang ist es natürlich schwierig, weil man Angst haben könnte, dass ein anderer mit meiner Partnerin besser tanzt und sie daher mit ihm glücklicher sein könnte. Das passiert auch in meinen Kursen, wenn die Frau bemerkt, mit mir sei es doch so einfach, während ihr Mann es noch nicht so hinbekommt. Deshalb tausche ich so, dass die Teilnehmer bald merken, dass das normal ist. Erst mit dem Wechsel lernt man ja auch das richtige Führen und Folgen. Dann kann man in Buenos Aires ebenso wie in Prag mit wildfremden Partnern einen Tango tanzen.

Kann nicht nur der Tango, sondern prinzipiell Tanzen eine Art von Therapie sein? Sie haben im Alter von 18 Jahren die Diagnose Lymphdrüsenkrebs erhalten. Hat Ihnen Tanzen bei der Bewältigung geholfen?

Palm: Ich war bis dahin schon sehr erfolgreich in den Standard-Tänzen. Das wurde zunächst völlig ausgelöscht. Und man weiß ja nie, ob es das überhaupt war. Ich wollte in einer Bank erfolgreich sein oder Ingenieur studieren und ganz viel Geld verdienen. Durch die Krankheit habe ich meine Lebensziele überdacht und überlegt, was ich wirklich gerne mache. Als ich quasi ein Bonus-Leben bekam, habe ich mir meine Leidenschaft Tanzen konsequent zum Ziel gesetzt.

Haben Sie sich verändert, seitdem Sie Tango so intensiv und ausschließlich praktizieren?

Palm: Hm, ich denke schon. Ich bin jetzt weniger eifersüchtig. Man wird selbstbewusster, findet seinen eigenen Stil, kann auch mit seinen eigenen Fehlern leben und sagt sich: So bin ich und so tanze ich! Es macht mir nichts mehr aus, wenn meine Lebenspartnerin mit einem anderen tanzt, selbst wenn sie sich mit ihm zuhause trifft, um zu tanzen. Auch auf die Gefahr hin, dass sie damit ihren Partner fürs Leben finden könnte. Ich kann und darf sie ja nicht einsperren. Das ist ihr Recht. Ich bin freier geworden.

Spielte der Tango eine Rolle, als Sie sich von Ihrer Frau getrennt haben?

Palm: Im Endeffekt nicht, aber auch er hat uns klar gemacht, wie verschieden wir eigentlich sind. Sie wollte lieber nachmachen, was jemand vormacht. Ich wollte meinen Tanz auch gestalten. Aber es hat auch im Leben nicht gepasst. Marie habe ich erst nach der Trennung kennengelernt, sie war nicht der Grund dafür.

Zur Person
Auf einem dunklen alten Holzschrank in seiner Wohnung stehen sich Turnierpokale gleichsam auf den Füßen. „Nur ein kleiner Rest“, sagt Jörg Palm, „viele habe ich schon weggeworfen.“ Er begann als 12-Jähriger mit Hip-Hop und trainierte schon als Jugendlicher vor dem Zimmerspiegel täglich zwei Stunden. Zwischen 1992 und 2002 war Palm ein Standard-Turniertänzer mit beachtlichen Erfolgen: Finalist in Weltcup-Veranstaltungen, zweimal Gewinner von deutschen Ranglisten-Turnieren. Ab 2000 begann er mit Salsa-Shows und widmete sich zehn Jahre lang dem Breakdance. Mit seiner Gruppe wurde er 2007 Weltmeister bei einem Turnier der Organisation aller Tanzschulen. Schon seit den neunziger Jahren gibt Jörg Palm Unterricht in Tanzschulen und trainiert Turnierpaare in Standard-Tänzen.