„Mit der Geschichte wird Politik gemacht“

„Mit der Geschichte wird Politik gemacht“

Die ehemalige Dissidentin Petruška Šustrová über tschechische Tabus, korrupte Pragmatiker und konservative Ökos

12. 6. 2013 - Interview: Klaudia Hanisch

In der Gesprächsreihe „20 Jahre Tschechien – Eine Inventur“ lässt die „Prager Zeitung“ herausragende Meinungsführer Bilanz ziehen. Wo steht Tschechien 20 Jahre nach der Staatsgründung? Im fünften Teil der Reihe sprach PZ-Mitarbeiterin Klaudia Hanisch mit der einstigen Dissidentin Petruška Šustrová. Heute ist Šustrová Ratsvorsitzende am Institut für die Erforschung totalitärer Regime (ÚSTR) – das Pendant zur deutschen „Gauck-Behörde“. Im April setzte der Rat den Direktor der Behörde ab. Premier Petr Nečas spekulierte daraufhin öffentlich, die personellen Änderungen hätten politischen Charakter und sollten den Weg für eine künftige Regierung der Sozialdemokraten und Kommunisten ebnen. Šustrová dementierte. Im Interview mit der „Prager Zeitung“ geht Šustrová mit der politischen Klasse hart ins Gericht.

Frau Šustrová, Sie zählen zu den mutigen Unterzeichnern der Charta 77 und sind damit in die Geschichte Tschechiens eingegangen. Welche Rolle spielt Geschichte heute überhaupt noch im politischen Diskurs?
Šustrová: Im politischen Diskurs instrumentalisiert man die Geschichte als Waffe gegen seine Gegner. Das ist wirklich sehr bedauernswert, eine ernsthafte Erforschung und Auseinandersetzung tritt da in den Hintergrund.

In einem früheren Interview haben Sie geklagt, dass die Polen ein viel innigeres Verhältnis zu ihrer Geschichte hätten als die Tschechen. In Polen gibt es jedoch Themen, über die man nicht gern spricht. Etwa die Rolle der Polen im Holocaust. Gibt es auch in Tschechien solche Tabus?
Šustrová: In Tschechien ist das die Vertreibung der Sudetendeutschen und die sogenannten Beneš-Dekrete. Man kann zwar nicht behaupten, dass man darüber nicht spricht, aber wenn man die Medienbeiträge der letzten zwanzig Jahre zu diesem Thema nimmt, findet man nur sehr wenige Publikationen, die aus einem Erkenntnisinteresse heraus entstanden sind. Die meisten bedienen die Interessen gewisser politischer Gruppierungen. Die Normalisierung ist das zweite große Trauma. Ein Großteil der Bevölkerung hat sich damals an das System angepasst. Die, die heute als große Antikommunisten auftreten, waren vor 1989 noch Mitglieder des Sozialistischen Jugendverbandes; sie betrachteten das als eine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig werfen sie Älteren vor, dem System gedient zu haben.

Sie engagieren sich auch sozial, thematisieren die Situation der Roma und der Arbeitsmigranten aus Osteuropa. Unter den tschechischen Intellektuellen ist das eher eine Ausnahme. Warum ist das so?
Šustrová: Es stimmt, viele Intellektuelle widmen sich diesen Themen nur ungern. Vor allem das Thema der tschechischen Roma ist verzwickt und schwierig. Die einzige Partei, die sich mit dieser Problematik ernsthaft und verantwortungsvoll auseinandersetzt, sind die Grünen. Etwa vor einem Jahr sendete der Finanzminister an alle Ministerien und Behörden eine Anfrage, wo man die Möglichkeit sieht, Kosten zu sparen. Im Regierungsamt konnte man sich solche Sparmaßnahmen einzig und allein in der Abteilung für Menschenrechte vorstellen.

Sind es diese sozialen Probleme, die Ihnen mit Blick auf die Gesellschaft die größten Sorgen bereiten?
Šustrová: Die soziale Problematik steht da gar nicht an erster Stelle. Am meisten ärgert mich die allgegenwärtige Korruption. Sie nimmt ein Ausmaß an, das wir uns vor der Samtenen Revolution nicht vorstellen konnten.

Inwieweit ist das tschechische Parteiensystem für die Korruption verantwortlich?
Šustrová: Die politischen Parteien fordern ihre Mitglieder quasi dazu auf, die staatlichen Mittel auf fragliche Weise auszuschöpfen. Das ist hierzulande ein offenes Geheimnis, das bis jetzt von keinem systematisch untersucht wurde. Vor allem die Wahlkampfzeit ist die beste, um die Parteikassen aufzubessern. Die großen Werbetafeln zum Beispiel kosten niemals so viel, wie offiziell angegeben wird. Das restliche Geld wird mit den ausführenden Firmen geteilt.

Man spricht mittlerweile in ganz Europa von einer Ära der Postdemokratie. Sehen Sie noch ideologische Unterschiede zwischen den Parteien, stehen Parteien noch für spezifische Werte? Oder geht es nur noch um Macht und Machterhalt?
Šustrová: Es ist schwierig, die Frage eindeutig zu beantworten. Ich kenne einige Politiker, die aufrichtige Menschen sind und auch von ihren Parteien eine Wertverbundenheit fordern. Aber die meisten Politiker sind prinzipienlose Pragmatiker, die die Slogans ihrer Partei wiederholen. Ein festes Fundament an Werten jedoch fehlt ihnen. Es geht ihnen vor allem um die Macht, und mit der Macht sind finanzielle Mittel verbunden.

Sehen Sie Tschechien mehr im Osten oder im Westen?
Šustrová: Ich würde mir natürlich wünschen, dass hier westliche Standards gelten würden. Dass der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge in der Gesellschaft ein grundlegender wäre – ein Politiker, der lügt, sollte zurücktreten. In Tschechien gibt es jedoch nicht viele Politiker, die noch nie beim Lügen ertappt wurden. Unsere Gesellschaft ist in einem bedauernswerten Zustand. Ich glaube zwar nicht, dass alle plötzlich Christen werden müssten. Aber in dieser säkularen Ära gibt es überhaupt keinen Platz für Werte.

Ist der aufsteigende Nationalismus nicht so etwas wie eine Ersatzreligion?
Šustrová: Der Nationalismus kann auch eine treibende kreative Kraft sein. Ich frage mich nur, bis wann die kreative Seite überwiegt und wann sie ins Destruktive umschlägt. Die Balance zu finden, ist sehr schwierig. Wenn ich mir einige tschechische Politiker anschaue, dreht sich mir der Magen um. Es ist nicht gut, in der Gesellschaft Hass zu schüren. Ich glaube, dass Václav Klaus gerne eine nationalistische Front gründen würde. Nur die Reichsten zu repräsentieren, genügt für einen Wahlerfolg nicht. Aber es ist nicht nur Klaus allein. Im Jahr 2003, bevor er zum Präsidenten gewählt wurde, haben sich die Parteien darum gestritten, welcher der Kandidaten die Tschechen am besten vor der „deutschen Gefahr“ schützen kann.

Eine andere politische Idee, die etwa in Deutschland an Zuspruch gewinnt, ist die von einer grünen Gesellschaft. Man spricht von den Grenzen des Wachstums, von Nachhaltigkeit…
Šustrová: Ich glaube, diese Ideen werden es hier in den Mainstream-Medien sehr schwer haben. Die Partei der Grünen würde ich sogar wählen, wenn sie mehr Einfluss hätte. Ich sympathisiere mit ihnen, letztendlich wähle ich jedoch konservative Parteien.

Welche Partei wählen Sie?
Šustrová: Selbstverständlich TOP 09, auch wenn ich mit manchen ihrer Positionen nicht übereinstimme. Aber ich bin der gleichen Meinung wie Karel Schwarzenberg: Umweltschutz ist ein konservatives Motiv.

Wie bewerten Sie seine Arbeit als Außenminister?
Šustrová: Er der beste Außenminister, den wir bis jetzt hatten. Im Gegenteil zu Klaus und Zeman ist er vorsichtiger und kritischer gegenüber Russland. Allerdings gefällt mir nicht, wie er sein Ministerium führt. Unter den Beamten kommt es immer wieder zu Intrigen und anderen Missständen. Ich frage mich, ob er die Posten im Ministerium mit den richtigen Leuten besetzt hat.

Wo sehen sie Tschechien in 20 Jahren?
Šustrová: Ich glaube, Moses wusste ganz genau, warum er sein Volk 40 Jahre in der Wüste wandern ließ, bevor er sie endlich ans Ziel führte. Ein Volk oder eine Gesellschaft, die aus der Sklaverei befreit wird, ist degeneriert. Zu Zeiten des Kommunismus war der Mensch ein Sklave des Staates. Meine fünf Kinder sind mit großem Misstrauen dem Staat gegenüber aufgewachsen. Es wird sehr lange dauern, bis man dies überwindet und Loyalität entwickelt. Meiner Meinung nach ist Nationalismus der falsche Weg, um das zu erreichen. Aber wie es sonst gehen soll, weiß ich auch nicht.