Ein Großer für die Kleinen

Ein Großer für die Kleinen

Adalbert Czerny gilt als Pionier der Pädiatrie. Mit seinen Forschungen läutete er einen Paradigmenwechsel in der Medizin ein

3. 4. 2013 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: HU Berlin

Wer am 25. März nach einem Begriff googeln wollte, den begrüßte die Startseite der Suchmaschine mit einem entzückenden Bild. Im Google-Logo, dem sogenannten „Doodle“, war die Comicfigur eines knollnasigen Arztes zu sehen, der mit seinem Stethoskop einen kleinen Jungen abhört. Die wenigsten dürften gewusst haben, dass es sich bei dem Dargestellten um Adalbert Czerny handelt, dem Begründer der modernen Kinderheilkunde. Zum 150. Geburtstag würdigte Google den 1941 verstorbenen Mediziner, der sich wie kein anderer seinerzeit für die kleinen Patienten einsetzte.

Adalbert Czerny kam am 25. März 1863 in Jaworzno – heutiges Polen, damals österreichisch es Galizien – als Sohn eines Eisenbahningenieurs und einer Kaufmannstochter auf die Welt. Seine Kindheit verbrachte er in Wien und Pilsen. Anschließend studierte er Medizin an der Karl-Ferdinands-Universität in Prag, wo er 1888 promovierte. Nach dem Studium wollte sich Czerny eigentlich auf das Fachgebiet der Inneren Medizin spezialisieren, da er jedoch keine Stelle fand, ging er in eine pädiatrische Klinik in Prag, die sich aus einer Findelanstalt entwickelt hatte. Dort wurden Säuglinge versorgt, die kein Zuhause hatten.

Arzt als Erzieher
Czerny begegnete hier erstmals den miserablen Zuständen in den Krankenhäusern. Nur selten gab es separate Kinderabteilungen. Oftmals teilten sich mehrere Kinder ein Bett, wodurch sich die Infektionsgefahr erheblich erhöhte: Zwischen 1871 und 1905 starb durchschnittlich ein Viertel aller Kinder noch im ersten Lebensjahr. Die Ärzte schauten entweder ohnmächtig weg oder unterzogen die kleinen Patienten fragwürdigen Radikalkuren wie Einläufen und Fiebertherapien. Czerny war entsetzt über die Zustände und erkannte, wie hoch der Nachholbedarf auf diesem Gebiet ist, das noch in den Kinderschuhen steckte und eher stiefmütterlich behandelt wurde. Denn in der aufstrebenden Medizin des 19. Jahrhunderts war die Pädiatrie wenig angesehen; erst allmählich stieß sie auf wissenschaftliche Beachtung.

Unter diesen Auspizien beschloss Czerny, sich näher mit den Voraussetzungen für das Wohlbefinden der Kinder zu beschäftigen. In seiner Habilitationsschrift widmete er sich dem Thema, das ihn ein Leben lang beschäftigen sollte. Durch seinen Passus zur „Ernährung des Säuglings aufgrund der physiologischen Funktion seines Magens“ wurde die Fachwelt schließlich auf Czerny aufmerksam. Zahlreiche Universitäten umwarben den jungen Mediziner. Dieser wählte diejenige in Breslau, wo er als außerordentlicher Professor angestellt wurde. In seinen Vorlesungen zu „Der Arzt als Erzieher des Kindes“ stellt Czerny einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Verhalten des Kindes her: Viele Erziehungsprobleme seien selbst verschuldet – Überernährung und Reizüberflutung würden den Kindern schaden. In Breslau heiratete Czerny 1895 Martha Retter; der gemeinsame Sohn Marianus wurde im Folgejahr geboren.

1910 ging Czerny an die Kinderklinik in Straßburg. Er forschte weiterhin im Bereich „ganzheitliche Kinderheilkunde“. Neben der Hygiene widmete er sich der Ernährung, die von besonderer Bedeutung zu sein schien. Viele Frauen verzichteten damals auf das Stillen, da sie als Arbeitskräfte in den Fabriken und auf dem Feld gebraucht wurden. Für Neugeborene hatte das tödliche Folgen. Etwa acht von zehn Kindern, die mit Kuh- und Ziegenmilch aufgepäppelt wurden, starben an Durchfall. Czerny begriff, wie wichtig die Zusammensetzung der Milch ist.

Tierische Milch erwies sich als zu eiweißhaltig, muss also verdünnt werden, damit sich ein Baby gut entwickeln kann. Zugleich sollte sie aber auch mit Kohlenhydraten angereichert werden, um ähnlich nahrhaft wie die menschliche Muttermilch zu sein. Diese Befunde vereinte Czerny schließlich in seinem zweibändigen Werk „Des Kindes Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungstherapie“, einem Handbuch, das die Kinderheilkunde bis heute prägt. Czernys Schlussfolgerung: Eine ausgewogene Ernährung ist für die Entwicklung des Immunsystems bei Kindern unerlässlich. Falsche Kost hingegen kann nachhaltige Schäden verursachen und Krankheiten hervorrufen.

Stippvisite im Hörsaal
Neben der Ernährungskunde beschäftigte sich Czerny auch mit der Physiologie des Säuglings, seiner Verdauung und dem Stoffwechsel. Messen, Wiegen und Blutuntersuchungen führte Czerny als gängige Praxis zur Diagnose in der Kinderheilkunde ein. Am bedeutendsten für die Medizin dürfte jedoch der Ansatz des Arztes gewesen sein: Vehement vertrat Czerny die Überzeugung, dass nicht nur Erbanlagen und Krankheitserreger für die Konstitution eines Kindes verantwortlich sind, sondern vor allem der Umgang mit ihm.

1913 wechselte Czerny an die Kinderstation der Charité und wurde zum Nachfolger Otto Heubners, dem ersten ordentlichen Professor für Kinderheilkunde im damaligen Deutschen Reich. In Berlin gründete Czerny die internationale Pädiatrie-Schule und verhalf damit der deutschen Kinderheilkunde zu Weltgeltung. Die Schule war praktisch die erste systematische Ausbildungsmöglichkeit für Pädiater, für die es zuvor keine Lehrstühle gab. Werdende Ärzte aus der ganzen Welt kamen nach Berlin, um bei Czerny zu lernen. Seine Lehrveranstaltungen waren derart gut besucht, dass Demonstrationsvisiten mit einzelnen Patienten aus dem Krankenhaus in den Hörsaal verlegt wurden. Nach seiner Emeritierung ging Czerny mit 71 Jahren nach Düsseldorf, wo er den Lehrstuhl an der Medizinischen Akademie übernahm und in den Jahren 1935 und 1936 kommissarisch die Kinderklinik leitete. Czerny starb am 3. Oktober 1941 in Berlin. Seine Grabstätte befindet sich auf seinen eigenen Wunsch hin in Pilsen, wo er einst sein Abitur ablegte. An die bahnbrechenden Leistungen des Arztes erinnert seit 1963 der Adalbert-Czerny-Preis, der jedes Jahr von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) für herausragende Verdienste auf dem Gebiet der Kinderheilkunde verliehen wird.

Heute, etwa sieben Jahrzehnte später, erblicken in Deutschland jährlich rund 670.000 Neugeborene das Licht der Welt. Auf 1.000 Geburten entfallen dabei drei bis vier Sterbefälle – ein historischer Tiefstand, der ohne das Wirken Czernys undenkbar wäre.