„2020 werden die Europäer 126 Millionen Tonnen wegwerfen“

„2020 werden die Europäer 126 Millionen Tonnen wegwerfen“

Lebensmittel-Expertin Aurèle Destrée plädiert für mehr Trockenfutter und gegen Steuern auf verschenktes Essen

11. 9. 2013 - Interview: Martin Nejezchleba

Aurèle Destrée hat sich einer Aufgabe angenommen, die in Tschechien bisher kaum jemanden interessiert hat. Sie arbeitet im Thinktank Glopolis und analysiert, wo und warum Essen unnötig im Mülleimer landet. Destrée möchte dieses globale Problem auch in Tschechien zum Thema machen. PZ-Redakteur Martin Nejezchleba fragte, was sie herausgefunden hat.

Frau Destrée, Sie beschäftigen sich mit Lebensmittelverschwendung in Tschechien. Ist das überhaupt ein Thema in der tschechischen Gesellschaft?

Aurèle Destrée: Ich denke, es hat eine ganze Weile gedauert, bis das Thema hier angekommen ist. Wenn man schaut, wie Lebensmittelverschwendung im europäischen Kontext diskutiert wird, dann war das etwa in Deutschland vor zwei Jahren ein großes Thema. Nach Tschechien kam die Diskussion vor allem über die großen, international tätigen Firmen. Auch die UN hat eine große Kampagne gegen Lebensmittelverschwendung gestartet, die aufzeigt, wie man dieses globale Problem lokal anpacken kann.

In der EU landen jährlich 89 Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Der Großteil dieses Abfalls entsteht bereits in der Produktion und in den Supermärkten. Was kann der einzelne Konsument dagegen tun?

Destrée: Zu der Zahl sollte man noch sagen, dass es heute 89 Millionen Tonnen sind. Aber diese Mengen steigen rapide an. Bis 2020 geht man von einer jährlichen Lebensmittelverschwendung von 126 Millionen Tonnen aus – wenn wir nichts dagegen tun.

Wie kommt das? Sie sagten doch gerade, dass das Thema in der EU schon länger diskutiert wird.

Destrée: Durch Kampagnen Aufmerksamkeit zu schaffen, ist ein Sache. Schwieriger ist es, Wege zu finden, um die Verschwendung zu minimieren. Generell steigt der Lebensmittelkonsum in Europa weiter an. Aber in Großbritannien zum Beispiel wurde mit Hilfe der Kampagne „Love food, hate waste“ ein leichter Rückgang der weggeschmissenen Lebensmittel erreicht. Aber zurück zu Ihrer Frage: Ja, Privatpersonen können sehr viel tun. Wir haben erst kürzlich eine Straßenumfrage gemacht. Die Leute reagierten zunächst ein wenig reserviert auf die Frage, ob sie denn auch Essen verschwenden. Als würden sie sich schämen. Wenn man nachbohrt, dann gibt aber fast jeder zu, dass er hier und da mal ein Brot verschimmeln lässt oder zu viel Joghurt einkauft und ihn dann wegwerfen muss. In den Haushalten wird sehr viel Essen verschwendet und sehr vieles davon ist vermeidbar. In Tschechien gibt es sehr viele Supermärkte und sehr lange Öffnungszeiten. Das bringt Leute verstärkt in Versuchung, mehr zu kaufen, als sie konsumieren können. Die Aufklärung muss an den Schulen, von klein auf beginnen.

Wird denn in Tschechien etwa genau so viel Essen weggeschmissen wie im Rest Europas?

Destrée: Im Rahmen unserer Arbeit mussten wir sehr schnell feststellen, dass es einen großen Mangel an Daten gibt. Laut einer EU-Studie, die auf offiziellen Schätzungen aus Tschechien beruht, beträgt die jährliche Lebensmittelverschwendung 729.000 Tonnen im Jahr. Das wäre ein sehr großer Unterschied zum Rest Europas, was große Zweifel daran aufwirft, ob diese Schätzungen wirklich verlässlich sind. Und das ist die einzige Zahl, die es zu Tschechien gibt. Trotzdem denke ich, dass die Lebensmittelverschwendung hier nicht ganz so hoch ist wie im Rest Europas.

Woran liegt das?

Destrée: Trotz des Überkonsums gibt es hier ein recht ausgeprägtes Bewusstsein darüber, dass Verschwendung nicht zu tolerieren ist. Die Ratschläge der Großmütter scheinen hier noch ein wenig präsenter zu sein; Kindern wird immer noch klar gesagt, dass das nicht in Ordnung ist. Auch die Situation in den Supermärkten ist anders als in den westlichen EU-Ländern. In Frankreich etwa gibt es eine sehr strikte Handhabe was die Frische der Produkte anbelangt. Hier in Tschechien kann man auch Produkte im Regal finden, die kurz vor dem Ablaufdatum oder sogar darüber sind. Diese Lebensmittel hätte man in westlichen EU-Ländern längst aus dem Sortiment genommen – manchmal wird eine Woche vor dem Haltbarkeitsdatum entsorgt. Aber klar ist: Auch hier wird Essen in Supermärkten verschwendet.

Was sollten Supermärkte dagegen unternehmen? Jede Firma behauptet wohl von sich, dass sie Lebensmittelverschwendung vermeidet…

Destrée: Hier muss man mitbedenken, dass der Einzel- und Großhandel bereits Müll produziert, bevor er das Essen im Regal hat. Denn es gibt sehr strenge qualitative, aber auch ästhetische Anforderungen an die Produzenten. Krumme Karotten, kleine Kartoffeln, all das wird gar nicht erst von den Supermärkten gekauft und deswegen weggeschmissen. Was in Tschechien auch nicht ausreichend genutzt wird, ist die Verwertung von Essensabfällen zu Trockenfutter für Tiere. Ein sehr großes Problem gibt es auch auf gesetzlicher Ebene. In Tschechien müssen Supermärkte Steuern auf Lebensmittel zahlen, die sie an Essensbanken (vergleichbar mit den deutschen Tafeln, Anmerkung der Redaktion) spenden. Für die Supermärkte lohnt es sich also eher, Essen wegzuwerfen, als es an Bedürftige weiterzugeben. Das muss sich ändern.