Unvergessene Anmut

Unvergessene Anmut

Die Turnerin Věra Čáslavská ist gestorben. Wegen ihrer Zivilcourage bleibt sie nicht nur für viele Sportler ein Vorbild

7. 9. 2016 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Ron Kroon-Anefo, DNA Den Haag/CC BY-SA 3.0 NL

Věra Čáslavská war eine Kämpferin. In den sechziger Jahren kämpfte sich die Turnerin an die Weltspitze. Mit insgesamt sieben Goldmedaillen bei zwei aufeinanderfolgenden Olympischen Spielen wurde die zierliche Pragerin zum Aushängeschild der Tschechoslowakei. Die Nation lag ihr zu Füßen – bis sie im Jahr 1968 die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings kritisierte. Es folgten Jahre der Demütigung durch das Regime. Dennoch gab Čáslavská nicht auf und blieb ihren Grundsätzen trotz Repressionen treu. Für ihre Tapferkeit und ihren Mut blieb sie vielen Zeit ihres Lebens ein Vorbild. Ihren letzten Kampf bestritt die 74-Jährige am 30. August, als sie einer schweren Krebserkrankung erlag. „Tschechien und die Sportwelt haben eine der großen Ikonen verloren“, würdigte Premier Bohuslav Sobotka (ČSSD) die Verstorbene. „Ich möchte auch ihre Zivilcourage hervorheben, die sie 1968 der Besetzung des Landes entgegenstellte.“ Höhen und Tiefen lagen in Čáslavskás Leben stets nah beieinander.

Čáslavská kam 1942 in Prag zur Welt. Bereits als Kind trainierte sie Eiskunstlauf, bis sie im Alter von 15 Jahren zum Kunstturnen wechselte. Erste Erfolge erlebte sie 1958 bei den Weltmeisterschaften in Moskau, wo sie im Teamwettbewerb mit der tschechoslowakischen Mannschaft Silber gewann. Ihre erste Goldmedaille erturnte sich Čáslavská im Jahr darauf, als sie Europameisterin im Pferdsprung wurde.

Unterschrift mit Folgen
Den Höhepunkt ihrer Karriere erlebte die Sportlerin in den Jahren 1964 bis 1968. Insgesamt 19 Goldmedaillen errang sie bei sämtlichen bedeutenden internationalen Wettbewerben. So triumphierte sie bei den Olympischen Spielen in Tokio im Mehrkampf, Pferdsprung und am Schwebebalken; mit dem tschechoslowakischen Team holte sie Silber im Mannschaftswettbewerb. Ihre eigene Leistung übertraf sie bei den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt: Mit viermal Gold und zweimal Silber ging sie als eine der erfolgreichsten Turnerinnen in die Sportgeschichte ein.

Das Jahr 1968 setzte zugleich eine Zäsur in Čáslavskás Privatleben. Die damals 26-Jährige unterschrieb das „Manifest der 2.000 Worte“ von Ludvík Vaculík. Darin verurteilte der Schriftsteller die Haltung der Kommunistischen Partei während des Prager Frühlings und forderte sie auf, die Reformbewegung weiterzuführen. Zahlreiche Persönlichkeiten schlossen sich Vaculíks Kritik an den „Irrtümern des Sozialismus“ an und wurden fortan – insofern sie ihre Unterschrift nicht zurückzogen – verfolgt. So auch Čáslavská.

Auf die Olympischen Spiele in Mexiko musste sich Čáslavská heimlich vorbereiten. In einem Waldstück in der Nähe von Šumperk trainierte sie an starken Ästen für den Stufenbarren; gefällte Baumstämme ersetzten den Schwebebalken. Zu den Sommerspielen durfte sie 1968 trotzdem reisen. Als bei der Sieger­ehrung in Mexiko-Stadt die sowjetische Hymne für ihre Konkurrentin Larissa Petrik gespielt wurde – beide Sportlerinnen teilten sich Gold, nachdem der vorläufige Punktestand der sowjetischen Turnerin doch noch aufgewertet wurde – senkte Čáslavská den Kopf. Ein stiller Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in ihre Heimat.

Ihre Landsleute honorierten ihr mutiges Auftreten und wählten sie zur „Tschechoslowakischen Sportlerpersönlichkeit des Jahres“. Zudem wurde sie nach dem Goldregen in Mexiko zur „Weltsportlerin des Jahres“ gekürt und kurz darauf – hinter Jacqueline Kennedy – zur zweitpopulärsten Frau der Welt. Das tschechoslowakische Regime indes ließ sich davon nicht beeindrucken. Es schloss Čáslavská aus dem Sportverband aus, sie durfte nicht mehr an Wett­bewerben teilnehmen und wurde regelrecht in den Ruhestand gezwungen.

Einen Funken privates Glück brachte ihr das Jahr 1968 dennoch. Kurz nach dem Ende der Spiele heiratete sie in Mexiko-Stadt den Leichtathleten Josef Odložil, mit dem sie zwei Kinder hatte. Die Ehe hielt bis 1987.

In ihrer Heimat hielt sich Čáslavská als Putzhilfe über Wasser. Bis 1979 durfte sie das Land nicht verlassen. Dann bekam sie eine Anstellung als Trainerin in Mexiko. Den Job konnte sie angeblich erst annehmen, nachdem das Land der Sowjetunion angedroht hatte, seine Kohlelieferungen an Kuba einzustellen. Zwei Jahre arbeitete Čáslavská in Mexiko. Dann starb ihr jüngerer Bruder und sie kehrte in die Tschecho­slowakei zurück.

Eine glückliche Wende brachte die Samtene Revolution. Präsident Václav Havel machte Čáslavská zu seiner Beraterin für Sport, Jugend, Schule, Gesundheit und Soziales. Außerdem wurde sie zur Präsidentin des Nationalen Olympischen Komitees ernannt. Dem kurzen Lichtblick folgte eine familiäre Tragödie. Am 6. August 1993 schlug ihr Sohn Martin seinen Vater Josef in einer Diskothek nieder. Dieser stürzte dabei so unglücklich, dass er an den Folgen der Verletzung starb. Čáslavská wurde depressiv, mied Menschen und zog sich zurück. Später sagte sie, der Zwischenfall habe sie um 16 Jahre ihres Lebens gebracht.

Erst im Jahr 2009 trat Čáslavská mit ihrem sozialen Engagement wieder an die Öffentlichkeit. Und hielt sich auch nicht zurück, wenn es um Missstände ging. So kritisierte sie Miloš Zeman 2013 heftig für dessen Kampagne im Präsidentschaftswahlkampf. Sie warf ihm vor, fremdenfeindliche und falsche Argumente für seine Zwecke zu nutzen. Zuletzt rief sie ihre Landsleute im September vergangenen Jahres zu mehr Menschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen auf.

In einer öffentlichen Erklärung warnte Čáslavská vor populistischen und extremistischen Stimmen, die die Bürger verängstigten. Solidarität mache die Welt ein Stück ertragbarer, so die Sportlerin. Ihre Mitbürger ermutigte sie, sich von Gleichgültigkeit zu befreien und Courage zu zeigen. Ihr eigenes Engagement und dessen Folgen bereute Čáslavská nie. „Alles war und ist, wie es sein sollte“, sagte sie in ihrem letzten Interview im Tschechischen Rundfunk.

Čáslavskás Tod löste landesweit Bestürzen aus. „Der heutige Tag wird ein schwarzer Tag in meinem Herzen bleiben“, schrieb Eisschnellläuferin Martina Sáblíková auf ihrer Facebook-Seite. „Unsere Sportlegende ist gegangen, ein bemerkenswerter Mensch, der Hoffnung gab und Optimismus vermittelte und mein großes Vorbild war – Věra Čáslavská. Wir werden sie nie vergessen!“