Bis über die Schmerzgrenze

Bis über die Schmerzgrenze

Als Diskuswerfer trainiert Jaroslav Petrouš für die Paralympics. Am Wochenende will er zum dritten Mal auf die Schneekoppe laufen

27. 5. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Hvězda SKP Pardubice

Jaroslav Petrouš hat Oberarme wie Baumstämme. Und nur ein Bein. Am kommenden Wochenende wird er trotzdem, oder vielmehr gerade deswegen, zum dritten Mal auf die Schneekoppe laufen. „Vor dem Unfall war ich nie auf dem höchsten Berg Tschechiens“, sagt der Kugelstoßer, Diskus- und Speerwerfer, der vor vier Jahren entschieden hat, sich das linke Beim amputieren zu lassen – freiwillig, wie er betont.

Nach einem Arbeitsunfall hatte Petrouš seit 2005 bereits neun Operationen hinter sich und litt ständig unter starken Schmerzen. Dann fuhr er zum ersten Mal zu einer Weltmeisterschaft für Behindertensportler, die 2011 in Neuseeland stattfand. Alle Kandidaten müssen bei solchen Wettkämpfen zunächst vor eine Kommission treten, die den Gesundheitszustand bewertet. „Sie haben gemerkt, dass ich gelitten habe wie ein Tier und wollten nicht riskieren, dass ich starte“, erinnert sich der 38-Jährige. Er war enttäuscht. Aber er hatte auch die glücklichen Gesichter anderer Athleten gesehen, und was sie mit noch größeren körperlichen Beeinträchtigungen leisten konnten.

Als er zurück nach Prag flog, stand der Entschluss zur Amputation fest. „Ich fühlte mich danach gesünder als vorher“, sagt der zweifache Familienvater. Schnell lernte er, mit der Prothese zu laufen. Schon nach wenigen Monaten fuhr er wieder zu Wettkämpfen, qualifizierte sich für die Paralympics 2012 in London. Allerdings hatte das nationale Komitee noch nicht wieder mit Petrouš gerechnet und für eine Nachnominierung war es zu spät. Erneut musste er zusehen. Jetzt bereitet er sich auf die Weltmeisterschaft in Katar im September und die Paralympics im kommenden Jahr in Rio de Janeiro vor. „So viele Medaillen wie möglich“ will er dort holen. Zwei Mal pro Woche trainiert er dafür in Prag, an zwei anderen Tagen fährt er zu seinem Verein nach Pardubice.

Dass es in der tschechischen Hauptstadt keinen Klub für Behindertensportler gibt, ist nicht die einzige Hürde, mit der Petrouš zu kämpfen hat. Bisher warf er bei Wettkämpfen sitzend. Mit Bestweiten von 54,69 Meter mit dem Diskus und 37,02 Meter mit dem Speer gehört er zur Weltspitze, holte 2012 und 2014 Medaillen bei Europameisterschaften und hält tschechische und Europarekorde. Weil er aber künftig auch stehend werfen will, stellt er gerade seine Technik um.

Die Bewegungen vor dem Wurf mit der Prothese einzuüben, sei wie Tanzen zu lernen, sagt der Sportler. Die beiden Trainer, mit denen er zusammenarbeitet, können ihm dabei aber kaum Tipps geben. Sie haben selbst keine Behinderung und sind nur für Fitness und Athletik zuständig. „Ich kenne in Tschechien auch keinen anderen amputierten Diskuswerfer, mit dem ich mich beraten könnte“, so Petrouš. Im Internet schaut er sich Filme von Kollegen im Ausland an, mit manchen ist er über soziale Netzwerke in Kontakt.

Mangelnde Unterstützung

In vielen anderen Staaten herrschen dem Prager zufolge bessere Bedingungen: „Tschechien ist das einzige Land in Europa, das keine professionellen Behindertensportler hat. Wir haben alle einen Beruf und müssen das gesamte Training allein finanzieren.“ An staatlicher Unterstützung für Menschen mit Handicap fehlt es seiner Meinung nach aber nicht nur beim Sport. Als 2012 ein neues Gesetz in Kraft trat, seien viele Amputierte plötzlich zu „Gesunden“ geworden. Menschen mit Prothesen galten nicht mehr als Invaliden, Rentenansprüche und Zusatzzahlungen für die Pflege wurden ihnen gekürzt oder gestrichen. „Ich habe selbst einen Brief bekommen, in dem stand, dass ich nun leider nicht mehr behindert sei“, erzählt der Athlet, der vor mehr als zehn Jahren tschechischer Meister im Kaffeemachen wurde und derzeit als Handelsvertreter in dieser Branche arbeitet.

Wer den Prager mit langer Hose auf der Straße sieht, könnte tatsächlich meinen, dass ihm nichts fehle – abgesehen davon, dass er ein wenig humpelt. Er sei zwar froh, dass er als „gesunder Mensch“ wahrgenommen werde, sagt Petrouš. „Aber wenn ich nach Hause komme, ziehe ich nicht meine Schuhe aus, sondern meine Prothese. Dann bin ich nicht mehr selbständig, bin auf den Rollstuhl oder Krücken angewiesen. Ich wache morgens nicht mit Prothese auf, gehe nicht mit Prothese in die Dusche.“ Mit seiner Stiftung KlaPeto, die er gemeinsam mit der Theologin Kateřina Klasnová gegründet hat, setzt sich Petrouš dafür ein, dass das Gesetz aus dem Jahr 2012 wieder rückgängig gemacht wird und mehr Menschen finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen. Vor allem aber will er Kindern und Jugendlichen mit Behinderung helfen.

Um Spenden für sie zu sammeln, ist er vor zwei Jahren zum ersten Mal auf Tschechiens höchsten Berg gestiegen – ein Vorhaben, das mit einer Prothese wie sie Petrouš trägt, fast unmöglich ist. „Wenn mich jemand fragen würde, ob ich auf die Schneekoppe laufe, würde ich denken, er will sich lustig machen“, sagt der Sportler. Er brauche das Adrenalin, um über seine Grenzen zu gehen.

Im vergangenen Jahr wäre er fast gescheitert. Kurz vor der Benefizveranstaltung hatte er sich eine Verletzung zugezogen und niemandem davon erzählt. „Der Weg nach oben war die Hölle, ich wollte zwei oder drei Mal aufgeben.“ Aber oben wartete der zwölfjährige Petr, den er mit dem Erlös unterstützen wollte. Petrouš hielt durch. In diesem Jahr will auch Petr den Gipfel zu Fuß erreichen. Die Spenden sollen an die Familie eines sechs Monate alten Jungen gehen, dem kurz nach der Geburt beide Beine amputiert wurden.

Gezielt auf den Lauf vorbereiten wird sich der Diskuswerfer auch dieses Mal nicht. Dafür schmiedet er schon Pläne für nächstes Jahr. Im Februar will Petrouš, der vor seinem Unfall kein Bergsteiger war, auf den Kilimandscharo – wieder um Geld für ein Kind zu sammeln. Um den fast 6.000 Meter hohen Gipfel in Tansania zu erklimmen, muss der Tscheche erst auf etwa 4.000 Meter und sich dort drei bis vier Tage akklimatisieren. Wie seine Prothese auf die extremen Bedingungen reagieren wird, kann Petrouš nicht abschätzen. Ein spezielles Training hat er nicht vorgesehen. Er will sich auf ein Team aus erfahrenen Alpinisten und Bergrettern verlassen, das ihn begleiten wird. Und auf die nötige Dosis Adrenalin.