Ein Bein im Sudetenland

Ein Bein im Sudetenland

Die Erben der Vertreibung – Sudetendeutsche und Tschechen heute (Teil 1): Michael Maringer, Bundesbeamter

28. 8. 2014 - Text: Ralf PaschText: Ralf Pasch

 

Fragt man Michael Maringer nach seiner Herkunft, antwortet er: „In erster Linie sehe ich mich als Österreicher, mir ist jedoch sehr bewusst, woher ein Teil meiner Familie kommt, dass ich ein Bein im Sudetenland habe.“ […]

Der 43-Jährige aus Gumpoldskirchen bei Wien sagt, in seiner Familie sei offen über die Vergangenheit gesprochen worden. „Ich fragte als Kind meine Großmutter, woher sie stammt, und sie erzählte mir bereitwillig die ganze Geschichte.“ Intensiver wurden die Gespräche, als er mit 20, nach dem Abitur, für vier Jahre zu den Großeltern mütterlicherseits zog. „Ich hatte das Gefühl, dass sich beide gern erinnerten, an das gute Essen, die schöne Landschaft, Großmutter schwärmte von dem fruchtbaren Land und den guten Ernten.“ Das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen sei hingegen kaum ein Thema gewesen. „Aber ich konnte aus dem Wenigen schließen, dass es im Grunde gut war.“ Maringers Großvater war der Sohn eines Tschechen und einer Deutschen, er besuchte die deutsche Schule in Budweis, zu Hause wurde hauptsächlich Tschechisch gesprochen.

Maringer wollte auch von seiner 1940 geborenen Mutter mehr über die Vergangenheit wissen. Sie antwortete zwar, wenn er sie fragte, doch aus freien Stücken erzählte sie nie etwas. „Für sie ist das Thema erledigt. Sie meint, es wird sowieso keine Restitution geben und sagt: ,Die Tschechen, die uns damals vertrieben haben, sind Gesindel, sie haben uns rausgejagt, das war fürchterlich, das werde ich nie vergessen‘.“ Sie war gerade mal fünf Jahre alt, als sie mit ihren Eltern Südböhmen verlassen hatte, noch zu jung, um wirklich prägende Erinnerungen zu haben, das mag neben ihrer Verbitterung ein Grund für ihre distanzierte Haltung sein.

Ihr Vater und ihre Mutter reisten mehrmals in die Tschechoslowakei. Sie selbst blieb der alten Heimat fern und ihr Sohn Michael musste sich mit den Erzählungen seiner Großeltern begnügen.

Als sich 1989 die Grenzen zwischen West und Ost öffneten, machte Maringers Großmutter den Vorschlag, doch endlich gemeinsam hinüberzureisen. Ihr Enkel sollte nun ihre Heimat kennenlernen. Maringers Mutter verweigerte sich einer solchen Tour. „Sie war der Meinung, Oma regt sich zu sehr auf.“ Doch die Großmutter beharrte auf ihremPlan, sie ließ sich auch dadurch nicht davon abbringen, dass ihre Tochter das Thema wiederholt für erledigt erklärte. Der blieb aus einem pragmatischen Grund jedoch gar keine andere Wahl: Sie war die einzige, die den Führerschein besaß. […] Maringer beschreibt diese Fahrt nach Südböhmen als „sehr prägend und einschneidend“. Was bis dahin farbenfroh, aber eben nur in seiner Vorstellung existiert hatte, musste er nun mit der Realität abgleichen. „Es war sehr bewegend, endlich zu sehen, wie es wirklich dort aussieht.“ […]

Einige Jahre, sagt Maringer, lag das Thema auf Eis, doch dann „fing die Sache wieder an zu arbeiten“. Ende der neunziger Jahre, in der Phase als über den EU-Beitritt Tschechiens diskutiert wurde, sah er eine Sendung im österreichischen Fernsehen, in der Enkel von Sudetendeutschen interviewt wurden. Eine junge Frau sagte vor der Kamera, Tschechien könne nicht in die Gemeinschaft aufgenommen werden, solange die Beneš-Dekrete gültig seien. „Das prägte mich. Ich schaute mich um, fand im Telefonbuch die Sudetendeutsche Landsmannschaft in Österreich (SLÖ). Ab 2004 hatte ich Kontakt, zwei Jahre später trat ich ein.“ Er hoffte, dort „Gleichgesinnte zu treffen, Leute, die denken wie ich“. Mit der Geschichte der Landsmannschaft und deren Umgang damit hat er sich bisher nicht beschäftigt, „darüber weiß ich nichts“, gesteht er. […]

Dass die SLÖ die Abschaffung der Beneš-Dekrete und eine Restitution fordert, „ist ein Grund, weshalb ich dabei bin. Es geht mir nicht um eine Abfindung in Form von Geld, sondern darum, dass man die Grundstücke wieder zurückbekommt, zumindest, dass man dort wieder im Grundbuch aufscheint. Ich meine nicht, dass man die Tschechen aus den Häusern herausschmeißt, das sicher nicht.“ Es müsse vermieden werden, dass „Unrecht auf Unrecht“ folgt.

„Es geht mir auch darum, dass das deutsche Kulturgut dort wieder sichtbarer wird, dass die Deutschen dort wieder präsenter werden, wo sie Hunderte von Jahren gelebt haben.“ Ginge es nach ihm, würde es zum Beispiel zweisprachige Ortsschilder geben. […]

Im Unterschied zu seiner Mutter und anderen Betroffenen aus der Erlebnisgeneration lehnt es Maringer ab, pauschal von „den Tschechen“ zu sprechen, wenn die Frage ansteht, wie das Nachbarland mit der Vergangenheit umgeht. Stattdessen beobachtet er, dass es dort inzwischen Initiativen gibt, die sich um eine kritische Aufarbeitung bemühen. „Ich nehme das sehr ernst und schätze das, ich bin den Menschen dort sehr dankbar dafür.“ Dass in den Reihen der heute in Österreich lebenden Vertriebenen und deren Nachkommen noch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ansteht, sieht Maringer ein, doch für ihn steht fest: „Die Terrorherrschaft der Nazis war kein Grund, drei Millionen Sudetendeutsche zu vertreiben.“

Wenn es um die Chancen für eine Versöhnung mit den tschechischen Nachbarn geht, sind die Beneš-Dekrete für Maringer der Knackpunkt. „Ich glaube, dass das Verhältnis zwischen Deutschland, Österreich und Tschechien wegen der Dekrete sehr belastet ist. Ich hoffe, dass sie irgendwann außer Kraft gesetzt werden. Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg. Meine Mutter wird es sicher nicht mehr erleben, ich hoffe, dass ich es erlebe. Die Aussöhnung wird schneller gehen, wenn es die Beneš-Dekrete nicht mehr gibt.“

Zum Buch
Die Besetzung der Tschechoslowakei durch das Deutsche Reich und die Vertreibung der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien am Ende des Zweiten Weltkriegs sind dunkle Kapitel einer gemeinsamen Geschichte. Die Ereignisse liegen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, doch ihre Folgen sind bis heute spürbar – auch für die dritte Generation. Obwohl die Nachgeborenen längst dort ihre Heimat gefunden haben, wo sie heute leben, versuchen sie in einer Zeit, in der die Erlebnisgeneration auch in den sudentendeutschen Verbänden abtritt, auf ihre Art mit diesem schwierigen Erbe umzugehen.

Der Journalist Ralf Pasch, selbst Nachkomme von Deutschen aus Böhmen, hat fünfzehn Enkel aus Deutschland, Tschechien und Österreich dazu befragt, wie es ihnen mit ihrer Familiengeschichte gelingt, sich zu versöhnen. Die „Prager Zeitung“ stellt in den folgenden Ausgaben drei dieser Porträts auszugsweise vor, die vor kurzem unter dem Titel „Die Erben der Vertreibung – Sudetendeutsche und Tschechen heute“ erschienen sind.

Pasch, Ralf: „Die Erben der Vertreibung“. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014, 232 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-95462-236-8