Ein großer Wunsch

Ein großer Wunsch

Bis 2025 soll der öffentliche Nahverkehr barrierefrei werden. Derzeit müssen Prager Rollstuhlfahrer oft lange Umwege und Wartezeiten in Kauf nehmen. In nicht einmal jede dritte Straßenbahn können sie einsteigen

2. 7. 2014 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Daniel Nagelstutz

„Es gibt noch viel Arbeit für die Stadt“, findet Michal Prager. Wenn er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von Černý Most nach Dejvice möchte, kann er nicht wie andere Fahrgäste bei der zentralen U-Bahn-Station Můstek umsteigen. Denn die Direktverbindung zwischen den Linien A und B ist noch nicht barrierefrei und Treppen sind ein unüberwindbares Hindernis für Rollstuhlfahrer Michal. Er muss einen Umweg über die Stationen Florenc und Muzeum machen, zweimal umsteigen und ist etwa 45 Minuten unterwegs, falls alles nach Plan läuft. Ein Fahrgast, der bei Můstek die Treppen nehmen kann, braucht für den selben Weg nur eine halbe Stunde. „Mein großer Wunsch ist, dass der öffentliche Nahverkehr komplett barrierefrei ausgebaut wird“, sagt der 33-Jährige, der eine gemeinnützige Organisation leitet. „Dann hätte ich mehr Möglichkeiten, mich in der Stadt zu bewegen, ich würde weniger Zeit auf der Strecke verbringen und könnte viel effektiver arbeiten.“

Pragers großen Wunsch teilen auch die Verantwortlichen der Stadtverwaltung und der Prager Verkehrsbetriebe. Allerdings wird Michal sich noch mindestens elf Jahre gedulden müssen. Bis 2025 sollen sämtliche Barrieren im Prager Nahverkehr verschwinden. Das besagt ein Konzept, das die Stadtverwaltung ausgearbeitet hat. Demzufolge sollen jährlich 45 Millionen Kronen (etwa 1,6 Millionen Euro) in den Umbau von Bahnhöfen und Haltestellen fließen. Im Ergebnis sollen alle Metro-Stationen über Aufzüge oder Hebebühnen verfügen und sämtliche Zugänge zu Bussen und Straßenbahnen stufenlos erfolgen.

Von einem Zugang zu sämtlichen Straßenbahnen kann auch Radek Musílek derzeit nur träumen. Er nutze vor allem die Metro, mit den Straßenbahnen rechne er gar nicht, da die meisten nicht zugänglich seien, sagt der Rollstuhlfahrer. Die Zahlen der Prager Verkehrsbetriebe verraten: In ihrem Fuhrpark befinden sich derzeit etwa 230 Niederflur-Straßenbahnen, die einen Einstieg mit Rollstuhl ermöglichen – insgesamt verfügt das Unternehmen über mehr als 900 Straßenbahnen. Weitaus größer ist die Chance auf einen stufenlosen Einstieg bei den Bussen. Unter den 1.211 Fahrzeugen sind derzeit mehr als 820 Niederflur-Modelle. Bis auch die verbleibenden alten Exemplare ausgetauscht werden, setzt Musílek weiterhin vor allem auf die Metro und nimmt bei längeren oder komplizierten Verbindungen lieber eine Begleitperson mit. „Vor 25 Jahren waren wir bei Stunde Null. Damals war für Rollstuhlfahrer nichts zugänglich. Heute sind wir etwa bei der Hälfte – und ich wäre froh, wenn es nicht noch einmal so lange dauern würde, bis wir hundert Prozent erreichen.“

Einen kleinen Schritt weiter ist die Stadt seit wenigen Tagen: Rollstuhlfahrer mussten in den vergangenen zwei Jahren viele Umwege in Kauf nehmen, weil die barrierefreie U-Bahn-Station Národní třída geschlossen war, an der Linie B konnten sie zwischen den Stationen Smíchovské nádraží und Vysočanská nur bei Florenc aus- oder einsteigen. Ende Juni wurde die Národní třída wiedereröffnet, gleichzeitig wurde die barrierefreie Straßenbahn-Haltestelle Lazarská eingeweiht. Dort wurde der Bürgersteig bis zu den Gleisen erweitert, sodass Rollstuhlfahrer und Eltern mit Kinderwagen jetzt zumindest in die neuen Straßenbahnen ohne Stufe einsteigen können. Außerdem verbindet an der Straßenecke Lazarská/Rettigova ein Aufzug die Haltestelle mit der Metro-Station Národní třída.

Über den Umbau freut sich auch Erik Čipera. Er leitet die Organisation „Asistence“, die Menschen mit Behinderung unter anderem auf ihrem Weg durch die Stadt begleitet, und hat sich seit 2008 dafür eingesetzt, dass die Lazarská-Haltestelle barrierefrei wird. Dass die Umsetzung so lange gedauert hat, erklärt er damit, dass es bisher kein Konzept gegeben habe und hofft, dass in Zukunft vieles schneller gehen werde. „Schließlich profitieren nicht nur Rollstuhlfahrer, wenn der öffentliche Nahverkehr barrierefrei ist“, so der junge Vater. Senioren und Eltern mit Kinder machen Čipera zufolge fast ein Drittel der potenziellen Fahrgäste aus. „Im Laufe seines Lebens ist fast jeder einmal betroffen.“ Die nächsten Straßenbahn-Haltestellen, die umgebaut werden sollen, seien Újezd und Pravnická fakulta, so der Leiter von „Asistence“. Gerade im Zentrum sei es derzeit noch schwierig, sich mit einem Rollstuhl im öffentlichen Nahverkehr zu bewegen: „Die meisten Stationen an der Peripherie wurden später gebaut, als es schon Vorschriften für Barrierefreiheit gab. Im Zentrum dagegen stammen viele aus den achtziger Jahren, als man noch nicht darauf geachtet hat, dass auch Menschen mit Behinderung Zugang haben. Darüber hat man sich in Prag erst in den neunziger Jahren Gedanken gemacht.“

„Eine große Unfallquelle“
Weitere zwei Jahrzehnte später kann sich Tereza Doležalová zwar mit ihrem Rollstuhl weitgehend allein in der Stadt bewegen. Allerdings braucht sie dafür oft sehr viel Geduld. Je nach Linie ist mal jede zweite, mal jede vierte Tram eine Niederflurbahn – was für Doležalová im Alltag Wartezeiten von bis zu eineinhalb Stunden bedeuten kann, wenn sie gerade eine Bahn verpasst oder eine sehr ungünstige Verbindung erwischt. „Das passiert relativ oft“, erzählt die 28-Jährige. „Einfach so irgendwo hinfahren, das geht nicht. Ich muss die Fahrt vorher gut planen.“ Im Untergrund sind den Prager Verkehrsbetrieben zufolge derzeit 36 von 57 Stationen „barrierefrei“.

Das heißt aber nicht, dass Doležalová dort überall problemlos ein- und aussteigen kann. „Dieser Spalt zwischen den Bahnsteigen und den Zügen ist eine große Unfallquelle“, berichtet sie von ihren Erfahrungen. Der kleine Abstand lasse sich in der Praxis nicht so einfach überwinden wie es in der Theorie funktionieren sollte. Oder Rollstuhlfahrer müssen wie am Smíchovské nádraží auf eine Hebebühne ausweichen, die manchmal nur sehr langsam oder gar nicht funktioniert. Doležalová hofft deshalb, dass der benachbarte U-Bahnhof Anděl bald barrierefrei zugänglich sein wird. Der steht tatsächlich auf der Liste der Verkehrsbetriebe. Einen stufenlosen Zugang zu den Haltestellen Můstek, I.P. Pavlova und Anděl haben sie bereits geplant und wollen die Bauarbeiten noch in diesem Jahr beginnen. Anschließend sollen die Stationen Roztyly (Linie C) und Palmovka (Linie B) behindertengerecht modernisiert werden, sowie die zentrumsnahe Haltestelle Karlovo náměstí.

Jana Matěková hat sich mit der Suche nach Aufzügen und Straßenbahnen ohne Stufen erst beschäftigt, als ihre Mutter vor ein paar Jahren nicht mehr laufen konnte. „Am Anfang war das schwierig, wir hatten keine Erfahrung und große Bedenken: Wir wussten nicht, wohin wir fahren können und wie wir zurecht kommen werden“, erzählt die Tochter. „Sag, dass sogar Fremde uns helfen, einfach so“, unterbricht ihre heute 90-jährige Mutter. In den vergangenen Jahren habe sich einiges bewegt, glaubt Matěková. Immer mehr Menschen mit Behinderung würden Straßen- und U-Bahnen nutzen, und auch sie macht sich nun öfter mit ihrer Mutter auf den Weg. „Vor kurzem sind wir mit der Straßenbahn von hier bis ans Moldauufer gefahren, einfach so, weil das jetzt geht“, erzählt die Tochter. „Meine Mutter ist seit Jahren nicht Straßenbahn gefahren, das war ein richtiges Erlebnis für sie, sie konnte es gar nicht glauben, dass das mit dem Rollstuhl überhaupt möglich ist.“