„Die tschechische Gesellschaft ist sehr reaktionär“

„Die tschechische Gesellschaft ist sehr reaktionär“

Die Künstlerin Anna Daučíková gründete in den neunziger Jahren das erste feministische Magazin der Slowakei. Heute ist sie Professorin in Prag – und hat noch immer einiges zu kritisieren

4. 5. 2016 - Text: Katharina WiegmannInterview: Katharina Wiegmann; Fotos: CCA FUTURA

Anna Daučíková empfängt in ihrem Büro in der Prager Akademie der Bildenden Künste. Seit 2010 leitet sie dort ein Studio für neue Medien und arbeitet mit Studenten vor allem an bewegten Bildern. Videos sind auch Daučíkovás Medium für die Themen, die sie umtreiben: Queer sein und Verschiedenheit. In der Serie „33 Situations“ arbeitet die Slowakin ihre Zeit im Russland der achtziger Jahre auf – und vermittelt, dass das Sexualleben in der Sowjetunion wesentlich bunter war als offiziell gezeigt und gewünscht. In ihrer Heimatstadt Bratislava war sie in den neunziger Jahren Mitgründerin des feministischen Magazins „Aspekt“. Ihre Kunst will die 65-Jährige aber nicht feministisch nennen.

In einer Videoinstallation mahnen Sie Frauen auf ironische Weise, frei zu sein. Was bedeutet das?

Niemand kann frei sein. Das ist die Ironie in diesem Werk. Ich weise auf die Inhaltslosigkeit des Wortes Freiheit hin. Wie die Medien das Wort verwenden, wie es ausgesprochen wird, der Kontext, in dem es gesagt wird – all das ist leer, eine große Fälschung.

Was wäre Freiheit, wenn das nicht so wäre?

Man müsste eine Situation erreichen, in der die Freiheit des einen nicht die Freiheit der anderen gefährdet. Solange wir keinen Konsens über universelle Normen finden, die alle respektieren, gibt es keine Situation, die nicht für jemanden schadhaft ist. Frei sein ist kein individueller Imperativ. Es bedeutet, den anderen oder die andere in seiner und ihrer Freiheit zu verstehen. Das möchte ich in diesem Werk sagen. Frauen, Schwule, Transsexuelle, Afrikaner … Ich versuche, so viele Gruppen wie möglich zu nennen, um zu zeigen, wie unmöglich – und gleichzeitig notwendig – es ist, Freiheit als Lebenspraxis zu verstehen und den anderen als anders zu akzeptieren, was auch immer das bedeutet.

Sie sagen also, es gibt keine besondere Freiheit, die Frauen erreichen können …

Jede von uns muss für sich feststellen, wo sie nicht frei sein darf. Es geht darum, zu sehen, wo in unserem Leben Unterdrückung stattfindet. Und das machen Frauen nicht. Frauen in Tschechien sind sehr gut darin, das nicht zu sehen. Und nicht nur in Tschechien. Ich beobachte das auch bei Frauen in der Slowakei und allgemein im ganzen ehemaligen Ostblock.

Sie haben in den neunziger Jahren das feministisches Magazin „Aspekt“ in der Slowakei gegründet. Wie kam es dazu?

Ich war nur eine der Gründerinnen. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit 15 weiblichen Intellektuellen in Bratislava. Nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war, hatten wir Zugang zu Informationen über alle möglichen Themen – Feminismus war eines davon. Am Anfang haben wir nicht wirklich verstanden, warum besonders Frauen eine kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft einnehmen sollten. Im Kommunismus hatten Frauen ja angeblich dieselben Rechte und Möglichkeiten wie Männer – aber durch den grundsätzlichen Mangel an Freiheit und Rechten war die Unterdrückung der Frau unsichtbar. Wir begannen Texte zu diskutieren, die aus den USA und Westeuropa zu uns kamen und waren überrascht, dass es sich bei Feminismus einerseits um eine Wissenschaft handelt, aber auch um gelebte Praxis mit politischer Kraft. So kamen wir auf die Idee mit dem Magazin. Wir stießen auf starke Ablehnung, sowohl von Männern als auch Frauen. Die Intellektuellen waren überraschenderweise unsere schärfsten Kritiker.

Warum war das so?

Das Hauptargument war, dass feministisches Gedankengut ein Westimport war. Und natürlich war es das – wir haben westliche Texte gelesen und wurden von einer deutschen Stiftung unterstützt. Aber zu Beginn der Neunziger war nicht nur Feminismus ein Import aus dem Westen. Demokratietheorien und Ideen zur Regierungs­praxis wurden allerdings von niemandem kritisch gesehen. Aber Feminismus galt als schlechte Idee. Andere kritisierten Feminismus als linkes Gedankengut. Und später kam noch ein Problem dazu. Manche störten sich daran, dass es so etwas wie Lesben gibt und dass nicht alle Frauen heterosexuell sind. Das hat unser Projekt ein bisschen erschüttert, doch die Zeitschrift hat überlebt. „Aspekt“ ist heute auch ein Verlag und weiterhin ein Sammelbecken für feministisches Gedankengut. Das ist ein wahrer Sieg. Aber es blieb ein rein intellektuelles Unterfangen.

Erinnern Sie sich an die erste Ausgabe?

Wir haben lange darüber nachgedacht, womit man am besten anfangen könnte, um potenzielle Leser nicht abzuschrecken. Wir wollten gelesen und respektiert werden. Was uns am wichtigsten erschien, waren die Ungleichheiten bei den Gehältern und die Position von Frauen in der Arbeitswelt. Während des Kommunismus gab es eine völlige Schieflage, die Situation wurde aber ideologisch beschönigt. In der Realität bekamen Frauen weniger Geld und arbeiteten zudem zu Hause ganz ohne Bezahlung. Sie hatten ein schwereres Leben als Männer, dienten dem System, und das alles, ohne mitbestimmen zu können. Emanzipation war eine hohle Phrase. Nach dem Ende des Kommunismus dachten wir, dass wir jetzt alle angemessen für unsere Arbeit bezahlt würden. Überraschenderweise änderte sich nichts. Wir begriffen, dass die Frage gestellt werden musste, warum wir nicht so viel verdienen wie Männer. Aber wir wussten auch, wenn wir damit anfangen würden, wäre das unser Ende.

„Frauen, seid frei“, fordert die Künstlerin in diesem Video. „Frauen, seid frei“, fordert die Künstlerin in diesem Video.

Dabei sollten sich doch zumindest alle Frauen einig sein, dass unterschiedliche Bezahlung für die gleiche Arbeit ungerecht ist.

Die Logik der patriarchalischen Gesellschaft funktioniert anders. Frauen können nicht Rechte einfordern, bevor sie Selbstbewusstsein entwickelt haben. Auch deshalb haben wir entschieden, dass wir zuerst zu den Frauen und über Schönheit sprechen. Und damit auch darüber, was sich viele Frauen vom Ende des Regimes erhofft hatten. Dass sie endlich schön sein dürfen, sich kaufen können, was sie wollen. Wir wollten darüber sprechen, was schön sein heißt. Die erste Ausgabe lief also unter dem Titel „Mythos Schönheit“. Es ging um die Konstruktion von Schönheit und darum, wem wir uns als Objekt andienen. Dann kamen andere Themen, die sich in ihrer politischen Brisanz langsam steigerten. Es ging um Mutterschaft, danach hatten wir „Frauen und Macht” und nach fünf oder sechs Ausgaben kamen wir bei der lesbischen Existenz an, was zu einem großen Belastungstest wurde. Es erregte sehr viel Aufmerksamkeit, die Medien wollten einen Skandal daraus machen. „Aspekt“ war und ist ein größtenteils heterosexuelles Netzwerk, es bezog aber immer Position als Organisation, die lesbische Frauen als normal akzeptiert.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass Feminismus auch eine aufregende Praxis ist. Was bedeutet das?

Uns war immer bewusst, dass wir uns in einer komplett anderen Situation befinden als die westlichen Feministinnen. Bei uns gab es nie eine politische Frauenbewegung. In unserer Geschichte gab es keine weibliche Organisation, die Feminismus als Gesellschaftskritik prägte. Es war sehr schwierig, sich in der Slowakei zu engagieren – so ganz ohne Unterstützung von Frauen aus anderen Gesellschaftsschichten. Die kam erst zehn Jahre später. In den neunziger Jahren haben wir zum Beispiel mit Texten von Schriftstellerinnen gearbeitet, über ihre Position als Frauen in der Literatur nachgedacht und ihr Werk auf diese Weise betrachtet. Man warf uns daraufhin vor, dass das alles nur Spielereien für weibliche Intellektuelle seien. Und teilweise stimmte das.

Auch im Westen war Feminismus Teil der akademischen Sphäre …

Ja, aber gleichzeitig gab es im Westen an vielen Orten starke Frauenbewegungen. Heute sind feministische Akademikerinnen bei vielen politischen Protesten dabei. Judith Butler hat bei Occupy gesprochen. Der ehemalige Osten dagegen kämpft mit der Abwesenheit von feministischer Praxis, auch in Tschechien. Die Gesellschaft hierzulande ist in dieser Hinsicht sehr reaktionär und von patriarchalischen Dogmen dominiert. Und es scheint einen Konsens zu geben, dass das so bleiben soll. Mal sehen, wie lange das so weitergehen kann.

Betrachten Sie Ihre Kunst als feministische Praxis?

Ich sehe meine Arbeit nicht als feministisch. Ich bin Feministin und ich bin Künstlerin. Wenn jemand katholisch ist, nennt man seine Kunst nicht automatisch katholisch. Aber ich will in meiner Arbeit zeigen, dass meine Werkzeuge für Kritik feministisch sind. Ich bin keine aktivistische Künstlerin. Ich wurde zur Feministin, als ich 40 Jahre alt war, nicht als Studentin. Feminismus ist heute das einzig effiziente Werkzeug zur Gesellschaftskritik.

Haben Sie mit 40 Jahren lediglich angefangen, den Begriff Feminismus bewusst zu verwenden, oder gab es wirklich einen fundamentalen Wandel Ihrer Wahrnehmung?

Bevor ich Feministin wurde, war ich für bestimmte Fragen nicht sensibel. Wenn mich jemand fragte, worum es in meiner Kunst ging und ob sie eine bestimmte Gender-Position einnahm, war meine Antwort, dass meine Kunst universal sei. Ich arbeitete abstrakt. Ein Dreieck hat kein Geschlecht. Aber in einem bestimmten Kontext kann es das schon haben. Früher dachte ich nicht daran, Dinge zu sexualisieren. Ich stellte diese Fragen nicht. Ich führte meinen Kampf, Transgender zu sein, ohne daran zu denken, dass es ein Problem tief in der Struktur des Systems gab. Ich dachte, es ist ein persönlicher Kampf. Diese Art zu denken gibt es hier überall. Es ist die neoliberale Position zu glauben, dass jeder komplett für seinen Erfolg oder Misserfolg verantwortlich ist. Ich dachte auch so. Erst als Feministin lernte ich, was ich vorher alles ignoriert habe.

Es gibt Künstlerinnen, die ihre Arbeit als feministisch betrachten. Pussy Riot zum Beispiel. Glauben Sie, Gruppen wie diese können politisch einflussreich sein?

Natürlich. Alles kann die Politik beeinflussen. Und ich verstehe, wenn sich Pussy Riot als feministische Künstlerinnen begreifen. Das Hauptthema ihrer Arbeit ist das Schicksal von Frauen. Auch in ihrer wunderbaren Arbeit in der Kirche haben sie sich nicht an Gott gewandt, sondern an die Jungfrau Maria, auf dass sie die Welt von Putin befreie. Das wurde, bei aller Kritik von der russischen Seite, nie analysiert. Es ging um alles andere, nur nicht um den Inhalt des Songs. Die Frauen bitten eine weibliche Fürsprecherin im Himmel um Hilfe dabei, den Mann loszuwerden, der das Land – religiös gesprochen – zur Hölle fahren lässt. Das ist eine feministische Strategie der Künstlerinnen. Ich verfolge diese Strategie nicht. Meine Arbeit hat eine Bandbreite an Zugängen und Themen und vermeidet die Frage nach Identität. Aber queerness ist in meiner Kunst immer präsent.

Was bedeutet es, wenn die Prager Karls-Universität ihrer feministischen Studentengesellschaft untersagt, das Kürzel der Universität in ihrem Namen zu tragen – weil die Hochschule das als peinlich empfindet?

Das bestätigt nur, was ich schon gesagt habe. In allen Sphären der tschechischen, slowakischen und allgemein osteuropäischen Gesellschaft erleben wir eine schwere Krise des Selbstverständnisses. Es gibt keinen offenen und fairen Blick auf Vergangenheit und Gegenwart und dadurch eine Unfähigkeit zum Dialog mit dem oder der anderen. Es ist eine Schande. Aber ich hoffe, ich bin nicht naiv, wenn ich an die Vernunft glaube, und daran, dass an der Karls-Universität eines Tages über diese schmerzliche Aktion gelacht wird.