Zwischen Hoffnung und Trauma

Während sich Tschechiens Politik in einem norwegischen Fürsorge-Streit engagiert, verlieren hierzulande überdurchschnittlich viele Eltern das Sorgerecht
12. 3. 2015 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Lies Thru a Lens
Seit über zwei Monaten sorgt der Fall von Eva Michaláková für heftige Debatten in Tschechien: Die Mutter zweier Söhne hatte sich im Dezember 2014 hilfesuchend an die tschechischen Behörden gewandt. Was war geschehen? Bereits 2011 gab das zuständige Amt in Norwegen, wo die Familie seit langem wohnt, den neun Jahre alten Denis und den sechsjährigen David in die Obhut von Pflegefamilien. Der Mutter und ihrem damaligen Ehemann wurde Kindesmissbrauch vorgeworfen.
Dass der Fall fast vier Jahre später die Gemüter im Herkunftsland der Familie derart erhitzen würde, hätte damals wohl niemand gedacht. Aufgebrachte Bürger demonstrieren vor dem Gebäude der norwegischen Botschaft, Premierminister Bohuslav Sobotka (ČSSD) wendet sich persönlich an seinen norwegischen Amtskollegen, und Staatspräsident Miloš Zeman lässt sich sogar dazu hinreißen, die norwegische Politik mit dem nationalsozialistischen „Lebensborn“ zu vergleichen, einer Institution, die „arische“ Kinder aufzog und diese an Familien von SS-Offizieren vermittelte. Ähnliche Motive unterstellt Zeman nun den norwegischen Behörden.
Internationale Kritik
Wendet man den Blick von diesem konkreten Fall in Norwegen ab und schaut sich die Situation in Tschechien an, so fällt auf, dass hierzulande im weltweiten Vergleich überdurchschnittlich vielen Eltern das Sorgerecht entzogen wird. Wie die Ministerin für Arbeit und Soziales Michaela Marksová (ČSSD) gegenüber der Tageszeitung „Mladá fronta Dnes“ sagte, seien es im Durchschnitt 14 von 1.000 Kindern, die in Tschechien getrennt von ihren leiblichen Eltern leben, ob langfristig oder temporär. Zum Vergleich: In Großbritannien sind es nur fünf.
Die Einmischung des Staates in problematische Lebensverhältnisse kann für die betroffenen Kinder durchaus Hoffnung auf eine bessere Zukunft bedeuten. Dennoch stand Tschechien in der Vergangenheit für sein Vorgehen mehrfach in der Kritik internationaler Organisationen. Bereits vor vier Jahren hatte das UN-Komitee für Kinderrechte beanstandet, dass verwahrloste oder misshandelte Kinder in den meisten Fällen nicht in Pflegefamilien untergebracht werden, sondern in Heimen. Gerade im Fall von Babys und Kleinkindern im Alter von bis zu drei Jahren wird die Unterbringung in solchen Einrichtungen scharf kritisiert. Das Aufwachsen außerhalb einer Familie habe laut UN-Komitee oft negative emotionale und soziale Folgen. Nicht selten werde das Heim zum persönlichen Trauma.
Die größten Probleme, die Behörden hierzulande zum Einschreiten bringen, sind die Folgen von Armut. Kinder, deren Eltern aufgrund einer schwierigen wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage sind, sich ausreichend zu kümmern, geraten am ehesten in die Obhut des Staates. Und, wie Jindra Šalátová, Programmdirektorin der SOS-Kinderdörfer in Tschechien, betont: Meist sind es auch diejenigen, die selbst eine schwierige Kindheit hatten, die ihrem Nachwuchs keine guten Voraussetzungen bieten können. Als Gründe für die Trennung von Eltern und Kindern gelten die Vernachlässigung von Bildung und Erziehung, Verwahrlosung sowie psychischer und körperlicher Missbrauch. Auch Alkoholsucht oder Prostitution können eine Rolle spielen.
Überdurchschnittlich oft trifft es dabei Roma-Familien. Auch wenn die Absichten der Behörden gute sein mögen – möglicherweise verstärken sie mit diesen Maßnahmen das Problem der gesellschaftlichen Diskriminierung der Minderheit.
Die Gesetzeslage ist dabei nicht das Problem, das den Unterschied Tschechiens zu anderen europäischen Ländern in diesem Bereich markiert. Das Land hat 1991 die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet und auch in der nationalen Deklaration der Grundrechte und Freiheiten finden Kinder besondere Berücksichtigung. Entscheidend ist die Interpretation der geltenden Regeln durch die lokalen Gerichte, die darüber verfügen, ob die Familie zusammenbleibt oder nicht. Hier kommt es oft zu kontroversen Entscheidungen. Familie Walla aus dem südböhmischen Vesce ging mit ihrem Fall bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das Kreisgericht in Tábor hatte im Jahr 2001 angeordnet, die fünf Kinder in Heimen und Pflegefamilien unterzubringen – vor allem aufgrund problematischer Wohnverhältnisse. Fünf Jahre später bekam die Familie in Straßburg recht. Die Richter entschieden, dass der tschechische Staat nicht alles in seiner Macht stehende getan hätte, um den Wallas bei der Suche nach einer geeigneten Unterbringung zu helfen. Eine solche Unterstützung hätte den Entzug des Sorgerechts unnötig werden lassen.
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