Zurück zu den Wurzeln

Zurück zu den Wurzeln

Aus einem ehemaligen Munitionsdepot der Wehrmacht soll ein Zuhause für gemeinnützige Organisationen werden. Ein Besuch im mährisch-schlesischen Mikulovice

9. 7. 2015 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anto

Seine Oma habe in so einem Haus gewohnt, sagt der nette Mann im Abteil. „Das gehörte davor den Deutschen.“ Der Zugführer in Ausbildung kommt aus Jeseník, einer Bezirksstadt im Kreis Olomouc, die heute etwa 11.000 Einwohner zählt. Sie liegt knapp 250 Kilometer östlich von Prag, die polnische Grenze ist dafür nur einen Katzensprung entfernt. Viele Fabriken seien pleitegegangen, sagt der Einheimische. Dafür könne man hier gut Rehe beobachten. Ehemaliges Sudetenland eben.

Jeseník hieß bis 1947 Frývaldov, auf Deutsch Freiwaldau. Vor dem Zweiten Weltkrieg habe der Bezirk 74.000 Einwohner gezählt, heute seien es 42.000, erklärt Tomáš Hradil. Er ist der örtliche Vorsitzende des Vereins Brontosaurus, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für den Naturschutz einsetzt, für alte Denkmäler und für Orte, mit denen niemand etwas anzufangen weiß. Einer davon ist das Gelände „Na muně“ bei Mikulovice (Niklasdorf), 15 Kilometer nordöstlich von Jeseník direkt an der polnischen Grenze.

Anders als die Städte und Dörfer in der Umgebung hat „Na muně“ („Auf der Muna“) seinen deutschen Namen behalten, was allerdings nur wenige Einheimische wissen dürften. Denn Muna ist das Kurzwort für Munitionsanstalt – so wurden im Deutschen Reich die Areale genannt, auf denen die Armee Munition lagerte und zusammenstellte. Die meisten Munitionsanstalten wurden, wie die in Mikulovice, von den Nationalsozialisten für die Aufrüstung errichtet. Ein schwieriges Erbe, könnte man meinen. Aber Hradil und seine Mitstreiter haben einen Plan.

„Alles, was hier steht, hat nach Kriegsbeginn die Wehrmacht gebaut“, sagt der 43-Jährige und blickt nach links und rechts, als er mit dem Auto über das bewaldete Gelände fährt. Es sei nur zwei mal zwei Quadratkilometer groß, umfasse aber ein 32 Kilometer langes Straßennetz und sogar einen ehemaligen Bahnhof. Wo einst Gleise verliefen, hält Hradil an. Er zeigt ein einfaches Holzkreuz mit einer Dornenkrone aus Stacheldraht, das die einheimischen Aktivisten von Brontosaurus 2011 hier aufgestellt haben.

Gemeinsames Kreuz
Während des Krieges war „Na muně“ nicht nur ein Munitionslager. Auch Gefangene der Nationalsozialisten waren hier untergebracht. „Sicher Hunderte“ seien es gewesen, meint Hradil. Im Internet hat er Belege dafür gefunden, dass 25 Menschen hier gestorben seien, aber gewiss seien es mehr gewesen. An diese Opfer soll das Holzkreuz erinnern. Gleichzeitig aber auch an die Deutschen, die vom Bahnhof der Muna aus abgeschoben wurden. Etwa 50.000 waren es laut Hradil. Er sieht auch sie als „Opfer des Regimes“. Viele Deutsche seien Faschisten gewesen, meint er. „Aber viele auch nicht.“

Hradil ist gelernter Schlosser, seine Familiengeschichte ist auch eine deutsch-tschechische: Der Vater seiner Großmutter war Wiener, die Familie lebte aber in Böhmen. Als der Krieg begann, mussten die Töchter, Hradils Oma und ihre Schwester, plötzlich eine deutsche Schule besuchen, obwohl sie die Sprache ihres Vaters nicht beherrschten. Hradils Großtante heiratete einen Deutschen und wurde nach dem Krieg mit ihm abgeschoben, seine Großmutter war als Zwangsarbeiterin in Dresden gewesen und kehrte zurück nach Hause. Ihre Tochter, Hradils Mutter, studierte später Deutsch und lehrte an einer Grundschule. Der Sohn beherrscht die Sprache nicht, „leider“, sagt er.

Am Längsbalken des Holzkreuzes hat irgendwann jemand ein laminiertes Blatt Papier angebracht. „Gedenken an die Vertreibung 1946“ ist darauf auf Deutsch zu lesen. Darunter eine Telefonnummer. Wer sie wählt, landet in der Nähe von Regensburg, bei Georg Schiedeck, geboren im April 1945 im nahegelegenen Jauernig, heute Javorník. Dort, wo der Mann von Hradils Großtante herkam. Schiedeck erzählt von seinen Reisen in die „alte Heimat“, vom guten Verhältnis zu den Einheimischen, von seiner tschechischen Dolmetscherin. Bald will er wieder zu Besuch kommen. Den Brontosaurus-Vorsitzenden freuen solche Geschichten. Sein Verein will nicht nur an die Vergangenheit erinnern. Er will vergessenen Orten neues Leben einhauchen. Mit vielen kleinen Denkmälern, Kapellen und Heilbrunnen sei das schon gelungen, erzählt Hradil. So sei 2005 ein Lehrpfad wiedereröffnet worden, der von Quelle zu Quelle durch die Geschichte des Kurbades Jeseník führt.

Vergessene Orte
„Die Erinnerung war abgeschnitten“, sagt Hradil. Als nach 1945 nur noch etwa drei bis vier Prozent der ursprünglichen Bewohner in Jeseník und Umgebung lebten, sei vieles in Vergessenheit geraten. „Die neuen Siedler hatten keine Beziehung zu den Orten, sie konnten mit den Denkmälern nichts anfangen, wussten nicht, warum sie sich darum kümmern sollten.“ Es dauerte, bis die Menschen begannen, sich für die Geschichte der Gegend zu interessieren, bis sie den Weg „zurück zu den Wurzeln“ suchten, wie Hradil es formuliert.

Geschenk der Gemeinde
Auch für die Muna gab es zunächst einen anderen Plan. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten die tschechoslowakische und später die tschechische Armee das Gelände. Als die letzten Soldaten 2006 abzogen, wurde es der Gemeinde Mikulovice übergeben. Ursprünglich sei ein Industriegebiet angedacht gewesen, erzählt Hradil. Aber so nah an der Grenze, „mindestens 100 Kilometer von jeder größeren Stadt entfernt“, habe sich kein Unternehmen ansiedeln wollen. Den Aktivisten von Brontosaurus kommt die Abgeschiedenheit gerade recht. Sie erhielten einen Teil des Geländes von der Gemeinde und begannen, die Ruinen zu wohnlichen Hütten umzubauen. Sie organisierten Festivals mit Spielen und Musik, veranstalteten Ferienlager für Kinder und Jugendliche in dem Waldgebiet, aus dem sie nach und nach ein „Dorf der gemeinnützigen Organisationen“ machen wollen. Ob das nicht gefährlich sei, auf einem ehemaligen Munitionsdepot? Ab und zu finde jemand leere Patronen, meint Hradil. Aber etwas Gefährliches habe noch niemand entdeckt. Ein Teil des Geländes sei untersucht worden. Natürlich gebe es ein gewisses Risiko. Aber das sei sehr gering.

Mittlerweile sind die „Brontosaurier“, wie sie hier genannt werden, nicht mehr allein auf der Muna. Unter anderem die Pfadfinder und ein Verein, der sich um kranke Kinder sozial schwacher Familien kümmert, haben sich hier Ferien- und Wochenenddomizile eingerichtet. Die „Freunde Jaroslav Foglars“ sind gerade dabei, eine ehemalige Lagerhalle zu einem Vereinsheim umzubauen. Jiří Kalina trägt Fliesenkleber auf, bald sollen die Toiletten fertig werden. „Am Anfang war es sehr abenteuerlich hier“, erzählt der Brünner. „Es gab überhaupt nichts auf dem Gelände, das war ein richtiger Kampf ums Überleben.“ Nebenan spielt jemand Gitarre, Kateřina Sloupová hat auf dem Holzofen Bohnen und Fleisch gekocht. Sie kommt aus Javorník; die meisten anderen nehmen einen längeren Weg auf sich, um in der Natur zu werkeln. „Es freut mich zu sehen, wie aus unserer Arbeit langsam etwas wächst“, sagt Martin Vérteši aus Brünn.

Die Küche ist mit heller Holzdecke und weißen Kunststofffenstern ausgestattet – alles in Eigenleistung des Vereins, der sich nach dem Jugendbuchautor und Wegbereiter der tschechischen Pfadfinder nennt. „Jetzt fühlen wir uns schon zuhause“, sagt Kalina, während der Fliesenkleber trocknet. Wenn sie nicht an ihrer Baustelle arbeiten oder schwimmen gehen, setzen sich die „Freunde Jaroslav Foglars“ mit den Mitgliedern der anderen Organisationen zusammen, knüpfen Kontakte, tauschen Erfahrungen aus. Oft geht es dabei um das Gelände und seine Geschichte, manchmal auch um Sagen und Legenden. Von Grabmälern ist die Rede, die plötzlich aufgetaucht sein sollen – niemand wisse genau, was es damit auf sich hat.

Gerüchte ohne Quellen
„Man hört viele Legenden“, sagt Hradil. Die ganze Geschichte der Muna aufzuarbeiten sei ein Langzeitprojekt. Immer wieder gebe es Gerüchte, Behauptungen ohne Quellen. Dass die jungen Menschen darüber ins Gespräch kommen, und auch dass sich die Organisationen kennenlernen, sei der Zweck des gemeinnützigen Dorfes, erklärt der Vorsitzende von Brontosaurus im Auto. Wenige Meter weiter hält er wieder an. „So sah die Halle, die wir gerade besichtigt haben, vorher auch aus.“ Ein Reh springt zwischen den Ruinen hervor, blickt sich um, verschwindet im Wald.

Wenn es Geld dafür gäbe, würde Hradil in einem der verfallenden Objekte eine Ausstellung einrichten. Bisher ist auf dem Gelände ein Lehrpfad entstanden. Wanderer und Fahrradfahrer können sich auf den Schautafeln über die Geschichte der Muna informieren. Außerdem haben die Jugendlichen Skulpturen aufgestellt – ein „guter Sudetendeutscher“ ist ebenso darunter wie eine Sagengestalt und ein Indianer. Das Herzstück des Geländes ist für Hradil aber das Gebäude, dem die Soldaten die Nummer 104 gaben. Es ist eines der Objekte, die am weitesten vom Ort Mikulovice entfernt liegen, eine hundert Quadratmeter große Lagerhalle, in der es nach frisch gesägtem Holz riecht.

Manche Wände und Pfosten stammen noch von der Wehrmacht, andere Materialien von der tschechoslowakischen Armee. Die „Brontosaurier“ haben das Dach der Halle mit Solaranlagen versehen und große Fenster eingebaut. Im Inneren errichten sie nun Hütten aus Lehm und Stroh. Einige sind schon fertig, weitere in Planung; dafür sammeln sie gerade Spenden übers Internet. In den kommenden Wochen organisiert der Verein ein internationales Workcamp, zu dem sich Jugendliche unter anderem aus Frankreich und Asien angemeldet haben. Außerdem ist ein Erlebnis-Ferienlager geplant. Die Veranstaltungen sollen den Bau der Hütten voranbringen, hofft Hradil, damit schon bald noch mehr Leben einkehrt auf der Muna.