Zart und unergründlich

Zart und unergründlich

Mit ihren Bildern verlieh Toyen dem europäischen Surrealismus eine besondere Farbe. Von der tschechischen Kunstgeschichte wurde sie dennoch lange Zeit verkannt

13. 2. 2014 - Text: Franziska NeudertText: fn; Foto: ČTK

„Was bleibt von dem Prag, dass Apollinaire in seinen Versen beschwor, von seiner prachtvollen Brücke mit ihren maßgeschneiderten Statuen, die vom Heute in die Ewigkeit führt, von seinen elektrischen Schildern, die von innen heraus zu strahlen scheinen (…) diesem tiefen unvergleichlichen Aufbäumen der Ideen und Hoffnungen, diesem leidenschaftlichen Gedankenaustausch, bemüht Poesie und Revolution miteinander zu vereinen, während die Möwen aufgewühlt in alle Richtungen über der Moldau flogen (…) Was bleibt von alldem? Es bleibt Toyen.“    André Breton, 1953

Als André Breton, führender Theoretiker der französischen Surrealisten, Toyen in den zwanziger Jahren in Paris kennenlernte, war er hingerissen. Die junge Tschechin strotzte vor Selbstbewusstsein, kleidete sich wider Erwarten wie ein Mann und malte zugleich Bilder von beeindruckender Zartheit. Toyen war eine Ausnahmekünstlerin. Mit ihrem eigentümlichen Wesen inspirierte sie nicht nur zahlreiche kreative Köpfe der Avantgarde. Ihr Werk bildete ein ebenbürtiges Element in einer von Männern dominierten Künstlerszene und prägte die Kunst des 20. Jahrhunderts maßgeblich mit. Gemeinsam mit anderen Vertretern der heimischen Avantgarde rief sie vor 80 Jahren die Surrealistengruppe der Tschechoslowakei ins Leben und schrieb damit ein Stück Kunstgeschichte.

Marie Čermínová – wie Toyen mit bürgerlichem Namen hieß – kam am 21. September 1902 in Prag zur Welt. Über Kindheit und Jugend der Künstlerin ist wenig bekannt; sie selbst hüllte sich stets in Schweigen, wenn es um ihre Herkunft ging. Ihrem Künstlerkollegen Vitězslav Nezval gegenüber äußerte Toyen einst, weder eine Familie zu haben noch jemals eine gehabt zu haben. Der Dichter selbst erinnerte sich später: „Über Toyens Leben habe ich niemals etwas erfahren. Sie blieb ein Rätsel und gab nichts von ihrer Vergangenheit preis.“

Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester wohnte Toyen in Smíchov, damals noch Arbeitersiedlung außerhalb Prags. Mit 16 Jahren verließ sie ihr bisheriges Zuhause und zog nach Žižkov, wo sie in einer Seifenfabrik arbeitete. Von 1919 bis 1922 studierte sie Dekorative Malerei an der Kunstgewerbeschule in Prag.

Eine erste Zäsur erfährt ihr Leben während eines Urlaubs auf der kroatischen Insel Korčula im Jahr 1922. Dort lernt Toyen den drei Jahre älteren Maler, Fotografen und Schriftsteller Jindřich Štyrský kennen. Für Toyen sollte er zu einem lebenslangen Gefährten werden. Bis zu Štyrkýs frühen Tod 1942 lebten und arbeiteten beide in regelrechter Symbiose zusammen. Bedient sich Toyen in ihrem Frühwerk spätkubistischer Formsprache, findet sie in ihrer Malerei bald zu einem Magischen Realismus mit starken erotischen Bezügen. Außerdem erschafft sie zahlreiche Illustrationen, so zum Beispiel für Marquis des Sades sadomasochistischen Roman „Justine“, den Štyrský ins Tschechische übertrug.

Zerbrechliche Welten
Nachdem Toyen ihre familiären Wurzeln von sich gestreift hatte, legte sie 1922 auch ihren Mädchennamen ab. Fortan trat sie unter dem Pseudonym Toyen auf, das Jaroslav Seifert für sie ersonnen hatte. „Marie Čermínová hatte uns, gemeinsam mit Nezval, seit langem darum gebeten, für sie ein passendes Pseudonym zu erfinden. Wir schlugen ihr ein Dutzend Namen vor, aber keiner gefiel ihr. (…) Ich saß mit Manka (Koseform für Marie, Anm. d. Red.) kurz vor einer ihrer Ausstellungen in der Národní Kavárna. Sie wollte keinesfalls unter ihrem eigenen Namen ausstellen. Nach einer Weile schrieb ich den Namen Toyen in großen Buchstaben auf eine Serviette. (…) Seit diesem Tag trägt sie den Namen und niemand spricht sie mit einem anderen als diesem an“, erzählt der spätere Literatur-Nobelpreisträger Seifert 1979 in seinen Memoiren.

Der geschlechtsneutrale Name unterstrich nicht zuletzt auch die androgyne Erscheinung der Künstlerin, die sich bevorzugt in männlicher Kleidung zeigte. In Smoking, mit Fliege am Hals und kurzgeschnittenem Haar brach Toyen bewusst mit gesellschaftlichen Konventionen und dem Stereotyp einer zierlichen, mädchenhaften Frau. Wenn sie von sich selbst sprach, vermied sie die weiblichen Endungen der tschechischen Sprache. „So wie sie keinerlei Liebe für ihren Familiennamen zeigte, so wenig scherte sie sich um ihr weibliches Geschlecht. Sie sprach von sich selbst nur im maskulinen Genus. Das erschien uns anfangs ein wenig ungewöhnlich und grotesk, aber bald gewöhnten wir uns daran“, berichtet Seifert weiter.

1923 treten Toyen und Štyrský der Avantgarde-Gruppe Devětsil bei. Die Strömung – 1920 von Karel Teige, Jaroslav Seifert und Vladislav Vančura gegründet – sieht ihr Schaffen politisch motiviert und orientiert sich an proletarischer Kunst und dem sogenannten Magischen Realismus.

Eine weitere Wende im Schaffen der Künstlerin ereignet sich, als sie 1925 mit Štyrský vorübergehend nach Paris zieht. Dort treffen beide auf André Breton, der ein Jahr zuvor mit dem Manifest des Surrealismus die Kunst als neue, ungefilterte Form des reinen Ausdrucks fern jeglicher Vernunft beschworen hatte.

1927 organisieren Toyen und Štyrský eine erste gemeinsame Atelierausstellung an der Seine, bei der sie den „Artifizialismus“ proklamieren. Ihre Strömung verstanden sie als eine Alternative zu Surrealismus und Abstraktion, die Poesie und Malerei miteinander vereint. Als Farbgedichte sollten ihre Bilder beim Betrachter vor allem Emotionen auslösen und ihn aus seinen herkömmlichen Vorstellungsweisen reißen. Toyens Werke dieser Periode zeigen wunderbar zarte Kompositionen, in denen sich Form und Linie verlieren – fragile Welten voller lyrischer Abstraktion.

Spiel mit den Realitäten
Zurück in Prag gründet das Künstlergespann 1934 mit Karel Teige und Vitězslav Nezval die Gruppe der Surrealisten der Tschechoslowakei. Anders als ihr französisches Pendant zeichnet sich die Prager Gemeinschaft durch eine bemerkenswerte Interdisziplinarität aus. Sie ist weit mehr als eine Künstlergruppe, die gemeinsam Werke erschafft und Ausstellungen sowie Lesungen organisiert – zeitweise stellte sie sogar eine Lebensgemeinschaft dar, vereint durch die Kulturpolitik der Tschechoslowakei, die die Surrealisten immer wieder in marginale oder oppositionelle Positionen drängt. Die Besetzung durch die Nationalsozialisten führt die Gruppe vorerst in die Illegalität und Emigration. Toyen und Štyrksý, deren Werke als entartet gelten, erhalten Ausstellungsverbot.

Trotzdem sind sie weiterhin künstlerisch tätig. Die Bilder, die Toyen in den Kriegsjahren schuf, sind düstere Zeugnisse voller Anspielungen auf die tödliche Gefahr. Als beeindruckendes Beispiel hierfür kann das Gemälde „La Coste“ gelten, das Toyen in erster Fassung 1942 entwarf: Auf  rissiger Wand ist der gezeichnete Umriss eines Wolfes zu sehen. Die linke Pfote des Raubtieres tritt zugleich aus der Mauerwand hervor und erfasst eine am Boden liegende Taube. Indem Toyen damit die Zweidimensionalität der Bildfläche bricht, materialisiert sich der Wolf im Raum zu einem bedrohlichen Wesen.

Bringt das Kriegsende dem Surrealismus in Paris einen Neuanfang, so entzieht er der Prager Künstlergruppe den Boden unter den Füßen. Mit der Machtübernahme der Kommunisten im Februar 1948 sehen sich viele Künstler gezwungen, in den Untergrund zu gehen – das Prager Kulturleben spielt sich fortan überwiegend im Privaten ab. In Vorahnung des sich anbahnenden Februarputsches verlässt Toyen mit ihrem Künstlerfreund Jindřich Heisler – den sie aufgrund seiner jüdischen Herkunft während des Kriegs in ihrer Wohnung vor den Nazis versteckt hatte – Prag noch 1947 und siedelt nach Paris über, wo sie sich den Surrealisten anschließt.

Bis zu ihrem Lebensende blieb sie der Künstlergruppe mit unermüdlicher Schaffenskraft treu. Ihre Werke spiegeln ein beständiges Spiel mit den Realitäten wider, mit Leben und Tod, Nacht und Traum, Illusion und Wirklichkeit. Es sind trügerische, oftmals erotische Traumbilder, die in unergründliche Räume führen. Ein konstantes Motiv bleibt für Toyen dabei die Frau, die sie als Objekt des Begehrens zugleich dem männlichen Blick entzieht. Was die Künstlerin zeigt, ist eine verführerische Hülle, in der die Frau selbst verschwunden ist.

Als Breton 1966 stirbt, übernimmt sie dessen Atelier. Weiterhin organisiert sie Ausstellungen und realisiert Buchprojekte. Die Auflösung der französischen Surrealistengruppe 1969 trifft Toyen zutiefst. Die folgenden Jahre verlebt sie eher zurückgezogen. 1980 stirbt die Künstlerin, in engem Freundeskreis wird sie auf dem Pariser Friedhof von Batignolles beigesetzt. In der tschechischen Presse fand ihr Tod kein Echo. Erst Jahre später sollte sie als Künstlerin von Weltrang neu entdeckt werden.

Kommentare

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  1. Sehr schöner Artikel, der meinen Ausstellungsbesuch in der Hamburger Kunsthalle wunderbar ergänzt.
    Ein wenig traurig stimmt mich, dass das Werk dieser großartigen Künstlerin bislang so wenig Resonanz in den Medien gefunden hat.





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