Wie eine große Familie

Wie eine große Familie

Der Bauernmarkt auf dem Kubánské náměstí in Vršovice gehört zu den ältesten und unbekanntesten der Stadt. Man findet dort ein echtes Stück Prager Leben

3. 9. 2015 - Text: Stefan WelzelText und Foto: Stefan Welzel

Samstagmittag – die Meteorologen haben Temperaturen von 30 Grad und mehr vorausgesagt. Der Himmel ist wolkenlos. Prag scheint an Sommerwochen­enden wie ausgestorben. Die Einheimischen ziehen sich auf ihre Landhäuser zurück und überlassen das Feld den Touristen und Expats. Über den Bauernmarkt am Kubánské náměstí in Vršovice schlendern deshalb nur wenige Kunden. In das Geräusch des Wassers aus dem Springbrunnen mischen sich Schlager- und Rock’n’Roll-Klänge, die von Jaromírs Stimme begleitet werden. Der blonde Mittsechziger übernimmt das inoffizielle kulturelle Rahmenprogramm des Bauernmarktes, der einer der ersten in Prag war und als Geheimtipp für alle gilt, die dem Rummel der zentral gelegenen Verkaufsstände entfliehen möchten.

Auf dem unwirtlichen Platz, umringt von hohen, grauen Plattenbauten, läuft alles etwas gemütlicher. „Man kann sich auch mal in aller Ruhe hinsetzen, einen Kaffee trinken und die Atmosphäre genießen“, erklärt Stanislav, Mitbegründer des Cafés „Kavárna Čekárna“ in Nusle, das hier seit anderthalb Jahren jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag einen Stand betreibt. Dem 26-Jährigen mit den hellbraunen Locken läuft der Schweiß von der Stirn. Die große Sommerhitze ist dem Geschäft nicht zuträglich. Dennoch: „Es kommen schätzungsweise 600 bis 700 Besucher an einem Samstag, das ist ganz passabel.“ Beim Plaudern mischt sich Stanislavs Standnachbar ein. „Es werden aber immer mehr. Die Leute in der Umgebung merken langsam, dass man hier frischere und bessere Produkte kaufen kann als im Supermarkt“, so der muskulöse Obstverkäufer.
Als Konkurrenten verstehen sich die gut 20 Standbetreiber nicht; es gibt auch nur wenige, die das Gleiche anbieten. Dazu zählen ein halbes Dutzend Gemüse- und Obstverkäufer sowie die Ableger zweier Bäckereien. „Sonst findet man hier aus jedem Bereich einen Stand. Es gibt eine Fischbude, einen Käse-, einen Honig-, einen Grillstand und einiges Überraschendes“, preist Jaromír den Markt charmant an.

Zum Überraschenden gehört sein Stand. Er hat die Bühne in der Mitte des Platzes wieder verlassen und das Mikrofon zur Seite gelegt. Hauptsächlich vertritt er auf dem Kubánské náměstí einen lokalen Kräuter- und Gewürzhersteller. Jaromír erweist sich als Marketender alter Schule und preist seine Ware mit kräftiger und zugleich sanft wogender Stimme an. Er verkaufe nur die besten, natürlichsten Produkte, die vor allem für die traditionelle böhmische Küche geeignet seien. Seit fünf Jahren existiert der Bauernmarkt in Vršovice; Jaromír ist seit Anfang an dabei und so etwas wie die gute Seele. Immer wieder spaziert er zu den anderen Standbetreibern, hält mit ihnen einen kleinen Schwatz. „Wir sind eine große Familie und man hilft sich gegenseitig.“ Aus Jaromírs blauen Augen funkelt der Schalk, sein Lächeln ist milde und väterlich. Danach zieht es den rüstigen Mann wieder in Richtung Marktmitte, wo ein altes Rock’n’Roll-Stück von Karel Gott darauf wartet, von ihm interpretiert zu werden. Es ist nicht die zweite goldene Stimme aus Prag, die nun den Platz beschallt, aber die meisten Kollegen schätzen Jaromírs Einlagen – und die Kunden stören sie offenbar nicht.

„Der Markt ist authentisch und versprüht Herzlichkeit.“ So erklärt Gertrud Kortic aus Slowenien den unscheinbaren Ort. Die 30-Jährige besucht den Markt zum ersten Mal und ist begeistert. „Ich wohne und arbeite seit zwei Jahren in Prag und meide die Plätze im Zentrum, die die Touristen vereinnahmt haben.“ Dass hier sogar live gesungen wird, findet sie sehr sympathisch. Die Märkte auf der Uferpromenade Náplavka oder auf dem Palackého náměstí will sie nicht mehr besuchen. „Zu viel Getümmel, zu hohe Preise.“ Von nun an möchte sie öfter den langen Weg von der Kleinseite hierher in Kauf nehmen, um ein Stück echtes Prag zu erleben. Als ob ihre Aussage einer sofortigen Bestätigung bedürfe, stellt Stanislav ihrem hechelnden Hund unaufgefordert eine Schüssel mit frischem Wasser hin und bespritzt auf Nachfrage auch die umstehenden Besucher. Der Kunde ist König, das gilt für Zwei- wie für Vierbeiner.

Das lockere Gesprächsklima, die herzliche Atmosphäre und die netten Kollegen sind auch für Michaela die Gründe, weshalb sie hier gerne zur Arbeit komme. Sie bietet Schafs- und Ziegenkäse sowie Trockenwürste an. Die 35-Jährige aus Příbram sitzt unter der Woche im Großraumbüro einer Versicherungsgesellschaft. „Ich genieße die Abwechslung. Und dass es auf diesem Markt nicht so hektisch zugeht wie auf anderen, ist mir gerade recht.“

Kurz nach 13 Uhr. In einer Stunde schließt der Markt. Einige Standbetreiber erklären den Arbeitstag bereits jetzt für beendet. Stanislav und seine Kollegen stellen langsam auf den Feierabend- und Partymodus um, spaßen mit den Besuchern und ergänzen die ersten Espressi um einen Schuss Hochprozentigen. Die enorme Mittagshitze hält die meisten Kunden vom Gang auf den schattenlosen Kubánské náměstí ab. Auch Jaromír beginnt, seine Sachen zu packen. „Ab ins Wochenende. Ich freue mich jetzt schon aufs Grillen und Musizieren.“ Kurz darauf wandelt er singend von Stand zu Stand, um sich von seiner großen Familie zu verabschieden.

Der Bauernmarkt auf dem Kubánske náměstí ist dienstags und donnerstags von jeweils 8 bis 18 Uhr und samstags von 9 bis 14 Uhr geöffnet. Infos unter www.farmarsketrhyp10.cz