Warum Tschechen so wenig verdienen
Gut gearbeitet, aber noch immer schlecht bezahlt. Was muss geschehen, damit die Löhne hierzulande steigen?
15. 6. 2016 - Text: Tomáš Brolík und Petr Horký, Titelbild: APZ
Wenn Tschechen auf ihren Gehaltszettel schauen, müssen sie sich eines fragen – und das tun sie auch immer öfter: Wie ist es möglich, dass ihre Löhne so viel niedriger sind als die ihrer westlichen Nachbarn? Wenn es um die Produktivität geht, erreichen tschechische Arbeitnehmer zwei Drittel des Wertes in Deutschland oder Österreich. Ihre Gehälter betragen jedoch nur ein Drittel dessen, was man in diesen Ländern verdient. Und wenn man sich ansieht, was tschechische Angestellte sich für ihren Lohn in den Geschäften hierzulande kaufen können, dann sind sie auch ärmer als Slowaken, Polen und Ungarn.
Dabei hat gerade Tschechien eine reale Chance, in wenigen Jahren als erstes osteuropäisches Land reicher zu sein als der EU-Durchschnitt – statistisch gesehen jedenfalls, wenn es nach der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts geht. Im Moment verhindert das aber noch das Missverhältnis bei den Löhnen.
Ein reiches Land mit armen Bürgern ist ein Unsinn, der in einer freien Gesellschaft nicht lange bestehen sollte. Aber die nötigen Schritte, die das Land auf dem Weg zu einem besseren Leben unternehmen muss, werden keine einfachen sein.
Tschechien hat bereits bewiesen, dass es zum Westen gehört, könnte man meinen, wenn man sich den am häufigsten verwendeten Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung ansieht – das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner. Die Tschechen schaffen mit ihrer Arbeit jährlich mehr Wert als die Portugiesen oder die Griechen, also hochentwickelte westliche Länder. Vor zwei Jahren hat Tschechien beim BIP sogar die Slowenen überholt und sie an der Spitze des postkommunistischen Blocks abgelöst. Wenn jedoch ein Tscheche sein Gehalt mit dem slowenischer oder portugiesischer Kollegen vergleicht und ausrechnet, was er sich dafür kaufen kann, stellt er fest, dass er trotzdem schlechter dran ist als sie.
Wenn man sich die Zahlen im Vergleich mit anderen europäischen Ländern genauer anschaut, sieht man, dass der Unterschied zwischen dem, wie produktiv die Menschen sind und dem, was sie dafür bekommen, in Tschechien am größten ist. Was das BIP pro Kopf betrifft, liegt Tschechien bei soliden 84 Prozent des EU-Durchschnitts, während zum Beispiel Portugal nur auf 78 Prozent kommt. Bei den Löhnen erreicht Tschechien aber lediglich 62 Prozent des Durchschnitts, während es die Portugiesen auf 73 Prozent bringen. Mit anderen Worten: Die Portugiesen können sich von ihrem Lohn elf Prozent mehr kaufen als die Tschechen; die Slowenen sogar um 33 Prozent mehr. Besser als die Tschechen schneiden auch die Polen, die Slowaken und die Ungarn ab. Das schmeichelhafte Bild Tschechiens als Land, in dem sich schnell ein langfristiger Wohlstand entwickelt, hat plötzlich seine Wirkkraft verloren. Es hat sich die Frage eingeschlichen, ob man nicht irgendwo einen Fehler gemacht hat.
Beim Übergang von der zentralen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft hat Tschechien – genau wie andere postkommunistische Staaten – auf die Überlegung gesetzt, dass man sich für kurze Zeit mit niedrigen Löhnen zufriedengeben muss, damit man besser mit dem Westen konkurrieren kann. Dann würde die heimische Wirtschaft wachsen, nahm man an, und man würde die weiterentwickelten Nachbarn bald auch bei den Löhnen einholen. Das ist uns gelungen – die Löhne sind ständig gestiegen. Im Jahr 1989 lag der durchschnittliche monatliche Bruttolohn bei 3.169 Kronen, im vergangenen Jahr war er mehr als achtmal so hoch. Aber mit den Löhnen stiegen auch die Preise, sodass das Monatsgehalt nach 26 Jahren insgesamt nur um etwas mehr als die Hälfte mehr wert ist als 1990.
Tschechien hat die kapitalistische Welt als Industrieland mit einer langen Maschinenbau-Tradition betreten. Auf qualifizierte Maschineningenieure, Schweißer und Schleifer zu setzen, schien damals eine gute Idee für die neue Ära. Die Industrie, vor allem die Automobilindustrie, wurde das stärkste Zugpferd der postkommunistischen tschechischen Wirtschaft. Als in den Neunzigerjahren Volkswagen den Hersteller Škoda kaufte und aus dessen Produkten Autos machte, die zu den meistverkauften in Europa zählen, entstanden im ganzen Land kleinere Firmen, die direkt an Škoda und auch an Volkswagen lieferten.
Die zweite große Welle, die aus Tschechien eine Automobil-Großmacht machte, kam um die Jahrtausendwende. Die damalige Regierung lockte ausländische Firmen mit Investitionsanreizen ins Land. Auf der grünen Wiese wurden die Fabriken von Hyundai in Nošovice und von TPCA in Kolín errichtet. Um sie herum siedelten sich weitere Zulieferer an. Tschechien wurde schrittweise eine einzige große Fabrik für Autos und Autoteile. Genau darin liegt laut Experten der Grund, weshalb die Löhne nun im Vergleich so niedrig sind.
Ein typischer tschechischer Industriebetrieb, der Autoteile herstellt, muss von einem großen Teil seines Gewinns neue Maschinen kaufen und Produktionshallen bauen. Es ist logisch, dass dem Unternehmen nicht so viel Geld für die Gehälter bleibt, wie zum Beispiel einer Firma im Dienstleistungsbereich, die einen Onlineshop betreibt und keine teure Ausstattung braucht, um zu bestehen. Außerdem gehören die meisten tschechischen Fabriken ausländischen Eigentümern, die investiert haben und nun ganz selbstverständlich einen Teil des Gewinns aus Tschechien abführen.
„Man sagt oft, dass wir eine Montagewerkstatt geworden sind. Aber das war kein Fehler. Die Menschen waren qualifiziert für Arbeitsplätze in der Industrie, das war unser Vorteil“, glaubt David Marek, Ökonom der Gesellschaft Deloitte. Eine perfekte Lösung war es seiner Meinung nach aber nicht. „Wir haben die Wissenschaft und die Forschung vernachlässigt. Wenn wir nicht mehr Geld in Bildung investieren, dann locken wir hier keine Produktion mit höherem Mehrwert an, in der es auch höhere Löhne geben könnte.“
Derzeit sieht Marek wenig Spielraum für Lohnsteigerungen. „Wenn jetzt auf einmal alle Industriebetriebe die Gehälter um zehn Prozent anheben würden, dann würden dass manche wahrscheinlich aushalten. Kurzfristig könnten sie dafür etwas von ihrem Gewinn verwenden. Aber danach müssten sie ihre Produkte teurer verkaufen oder in billigere Regionen ziehen, zum Beispiel nach Polen“, sagt Marek und rät von einer solchen Lohnsteigerung ab. Für realistisch hält er eine Erhöhung um etwa vier bis fünf Prozent. Er empfiehlt, eher die Besteuerung von Arbeit zu senken, die in Tschechien so hoch ist wie in kaum einem anderen EU-Land.
Eine große Kritikerin des derzeitigen tschechischen Wirtschaftsmodells ist die linke Ökonomin Ilona Švihlíková. „Wenn sich das Modell nicht ändert, kann man keinen Anstieg der Löhne erwarten“, sagt die Autorin des Buches „Wie wir zu einer Kolonie wurden“ („Jak jsme se stali kolonií“). Sie vertritt die These, dass tschechische Firmen, die Zubehör für Autohersteller liefern, aus Tschechien eine billige Werkstatt für Deutschland gemacht hätten. Was in tschechischen Montagehallen entsteht, habe einen so geringen Mehrwert, dass die Arbeiter nicht gut bezahlt werden können. Und wenn die deutschen Automobil-Riesen nicht mehr funktionieren, bricht auch die tschechische Branche zusammen.
Švihlíková kritisiert zudem, dass so viel Geld aus Tschechien ins Ausland abfließt. Verhindern würde sie das durch eine Dividendensteuer für Firmen. Aber sie weiß, dass Tschechien allein eine solche Maßnahme nicht einführen kann – andere Staaten hätten beim Werben um Investoren sofort einen Vorteil. Und Švihlíková ist skeptisch, dass es zu einer europäischen Lösung kommt. „Der letzte Versuch in diese Richtung war vor zwei Jahren der Vorschlag, Finanztransaktionen zu besteuern, was aber von Großbritannien sofort blockiert wurde, das von diesen Geschäften lebt.“ Eine Lösung müsse man deshalb im Inland suchen, meint die Ökonomin.
„Wir sind stark“
Das Ende der Billigarbeit in Tschechien haben sich die Gewerkschaften unter ihrem neuen Vorsitzenden Josef Středula zum Ziel gesetzt. „Niedrige Lohnkosten gelten als Wettbewerbsvorteil. Es ist aber kein guter Weg, der Zulieferer eines Zulieferers zu sein und Waren zu produzieren, die man mit keinen oder sehr niedrigen Gewinnmargen ins Ausland schickt“, sagt Středula. Helfen könnten seiner Meinung nach die Politiker. „Wenn sie ein Unternehmen besuchen, sollten sie nicht nur sagen, wie gut es ihnen gefällt, sondern auch nach den Löhnen fragen.“ Den Einwand, die Gehälter seien so niedrig, weil die Gewerkschaften so schwach seien, streitet er ab. „Wir sind stark. Im vergangenen Jahr haben wir 11.000 neue Mitglieder gewonnen. Es wurden mehr als 100 Gewerkschaftsorganisationen gegründet. Das sind junge, unzufriedene Leute.“
Von den Löhnen der Angestellten in Firmen leiten sich auch die Gehälter derer ab, die nicht direkt an der Herstellung von Produkten beteiligt sind – der Staatsangestellten und der Arbeitnehmer in gemeinnützigen Organisationen zum Beispiel. Die Gehälter in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst steigen Hand in Hand und sind im Durchschnitt auch etwa gleich hoch. Der tschechische Median – der Wert, der die Arbeitenden in zwei gleiche Hälften teilt: die, die weniger verdienen und die, die mehr verdienen – liegt heute bei 22.500 Kronen.
Man könne fast mit allem auskommen, sind sich vier Sozialarbeiter in České Budějovice (Budweis) einig. Sie helfen in ganz Südböhmen Familien, die Kinder mit Behinderung haben. Sozialarbeiter sind in Tschechien – zusammen mit Landvermessern – die am schlechtesten bezahlten Beschäftigten, die einen Hochschulabschluss nachweisen müssen. Die Sozialarbeiterinnen in České Budějovice, die zwischen 24 und 46 Jahre alt sind, verdienen etwa 18.000 bis 25.500 Kronen brutto im Monat. Sie kommen damit zurecht. Es reicht für die Miete und die wichtigsten Lebensmittel – weil auch ihre Ehemänner und Lebensgefährten von morgens bis abends arbeiten. Eine kaputte Waschmaschine könnte sie noch bewältigen, zwei solche unerwarteten Ausgaben wären schon ein größeres Problem, sagt eine der Frauen. Beim Einkaufen im Supermarkt müssen sie auf die Preise schauen. Sie würde gern öfter Hartkäse oder frischen Fisch kaufen, erzählt die zweite Sozialarbeiterin, aber das sei zu teuer, deshalb warte sie auf Sonderangebote. Wenn sie neue Schuhe brauche, müsse sie rechnen, sagt die Dritte. „Meistens warte ich, bis sie reduziert sind, oder auf meinen Geburtstag oder auf Weihnachten.“
Ein bisschen höher
Die Löhne könnten zehn Prozent höher ausfallen, das würde die Investoren sicher nicht vertreiben, glaubt Josef Středula. Und selbst wenn einige Analytiker einen so starken Anstieg für allzu kühn halten, stimmen dennoch auch sie mit einer gewissen Erhöhung überein.
Die bisherige Erfahrung zeigt: Wenn Arbeitnehmer entschlossen für ein höheres Gehalt eintreten, gelingt es ihnen, sich mit der Unternehmensführung zu einigen. So haben zum Beispiel die Gewerkschafter bei Škoda in Mladá Boleslav im Frühjahr mit Streik gedroht und im April einen Rekorderfolg verkündet: Innerhalb von zwei Jahren sollen die Gehälter um mehr als elf Prozent steigen.
Beispiele einzelner Firmen zeigen, dass ein Anstieg um zehn Prozent derzeit durchaus realistisch ist. Die Frage, wie schnell die tschechischen Löhne in Zukunft wachsen werden, ist komplizierter. Die heimische Wirtschaft funktioniere nach einem Auslaufmodell, erklärt der Ökonom Pavel Kohout. „Wir holen Deutschland auf dem Papier ein, wenn es um das BIP geht, aber das ist ein Trugbild.“ Er verweist auf das Bruttonationaleinkommen (BNE) – den Reichtum, der in Tschechien abzüglich der Gewinne entsteht, die an Investoren im Ausland fließen und zuzüglich der Gewinne, die tschechische Firmen durch ihre Geschäfte im Ausland nach Tschechien holen. Wobei letzteres hierzulande eine geringere Rolle spielt. Das BNE beschreibt also die Summe, die in Tschechien bleibt und sich vermehren kann. „Hier zeigt sich, dass wir uns von Deutschland eher weiter entfernen, als es einzuholen“, so Kohout.
Die Industrietradition, mit der Tschechien gerne prahlt, wirkt also auch wie eine Falle. Es sei denn, die Industrie würde sich verändern und komplexere Maschinen herstellen, die man weltweit teurer verkaufen kann. Das ist aber kein Prozess, der fünf oder zehn Jahre dauert – sondern eine ganze Generation.
Dass eine solche Veränderung möglich ist, haben andere Staaten bewiesen. Auf ähnliche Weise haben sich Finnland oder Israel emanzipiert, die einst ebenfalls billige Montagehallen waren. Sie haben beschlossen, Produkte nicht mehr nur herzustellen, sondern zu entwickeln. Beide Länder geben einen hohen Anteil staatlicher Gelder für Wissenschaft und Forschung aus. Mithilfe staatlicher Unterstützung für Start-ups entstand so einst die Firma Nokia.
Eine andere Idee hat Gewerkschaftschef Středula: „Statt auf östlichen Märkten Geschäfte zu machen, sollte der tschechische Staat unseren wichtigsten Partnern mehr Aufmerksamkeit schenken – und das sind europäische Firmen“, sagt er. Man sollte sie überzeugen, auch komplexere Produktionen und die Entwicklung neuer Produkte nach Tschechien zu verlagern. „Das würde sich ohne Zweifel auszahlen. Die Folgen wären gewaltig.“
Der Text erschien zuerst auf Tschechisch in der Wochenzeitschrift „Respekt“ Nr. 22/2016. Übersetzung: Corinna Anton
Bekenntnis zu Břeclav
Drastische Maßnahmen