Vom Weg der Harmonie

Vom Weg der Harmonie

Die japanische Kampfdisziplin Aikidō kommt ohne Wettbewerb aus. Für Martin Švihla ist sie eine Lebensphilosophie

14. 7. 2016 - Text: Helge HommersText: Helge Hommers; Foto: Aikido Praha Vinohrady

Übersetzt bedeutet Aikidō so viel wie „Der Weg der Harmonie“. Dass aber nicht alle Menschen diesen gewaltfreien Weg gehen wollen, musste Martin Švihla vor einigen Jahren am eigenen Leib erfahren. Damals griff den Aikidō-Trainer zu später Stunde ein bewaffneter Straßenräuber an. „Ohne Aikidō wäre ich vielleicht nicht mehr hier“, sagt der 38-Jährige und ergänzt: „Aber auch im Alltag hat mir Aikidō oft geholfen, Konflikte zu bewältigen.“

Entwickelt wurde die defensiv ausgerichtete Kampfkunst vor knapp 75 Jahren in Japan. Damals gab es zahlreiche Kampfsportarten, die allesamt zum Ziel hatten, den Gegner im Zweikampf zu schlagen. Der Kriegsveteran Ueshiba Morihei hingegen beschloss, dem traditionellen Wettstreit eine friedvolle Alternative zu bieten. So erfand er Aikidō, das er als ideales Mittel sah, um die Völker der Welt zu vereinen. Denn das Ziel von Moriheis Kampfkunst ist es nicht, den Kontrahenten zu besiegen oder Attacken abzublocken. Vielmehr soll die Energie, die der Gegner beim Vorstoß aufbringt, kontrolliert und dadurch auf den Angegriffenen übertragen werden. Zudem soll der Angreifer die Möglichkeit zur Einsicht erhalten, ohne dass Rachegefühle aufkommen. Häufig verwendetes Sinnbild dieser Philosophie ist eine sich im Wind biegende Trauerweide, die auch dem stärksten Sturm standhält, während selbst die massivste Eiche irgendwann bricht.

Mitte des 20. Jahrhunderts stellten japanische Aikidō-Meister ihren Sport erstmals in Europa vor. Von Frankreich aus verbreitete er sich auf dem Kontinent. Bis die Kampfkunst sich in der damaligen Tschechoslowakei etablierte, galt es formelle Hürden zu überwinden. Denn vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs waren in den sozialistischen Staaten zahlreiche Kampfsportarten verboten. Einzig die olympischen Disziplinen Judo, Boxen und Ringen wurden mancherorts in Vereinen angeboten und von staatlicher Seite gefördert. Karate allerdings, obwohl nicht olympisch, fand ebenfalls seinen Weg in die Sportclubs.

Friedliche Alternative
Martin Švihla kam erstmals als Zehnjähriger in einem Sommercamp mit Kampfsport in Kontakt. Schnell begeisterte sich der Slowake für Karate und hielt dem Sport sechs Jahre die Treue. „Irgendwann habe ich mich aber gefragt, was ich hier eigentlich mache: Ich kämpfe gegen meine Freunde, das kann doch nicht sein“, sagt Švihla. Den Karate-Gürtel hing er daraufhin an den Nagel, verabschiedete sich vom Wettkampfsport und suchte nach einer Alternative. Er fand sie bei einem Aikidō-Verein, der kurz zuvor in seiner Heimat in Banská Bystrica gegründet wurde.

Aikidōka – also Aikidō-Prakti­zie­rende – gab es in der Tschechoslowakei bereits Mitte der achtziger Jahre. Doch erst nach den politischen Umwälzungen organisierten sie sich und riefen vor 25 Jahren die Tschechoslowakische Aikidō-Föderation ins Leben. Die zu Beginn nur etwa eine handvoll Mitglieder zählende Gemeinschaft wuchs in der Folgezeit stetig.

Nach der Staatentrennung zerfiel auch der Verband in zwei Teile. Zudem kam es in den Folgejahren zu mehreren Zersplitterungen. Heute gibt es in Tschechien etwa 100 Vereine und knapp 3.000 Aikidōka, von denen jeweils knapp 1.000 im Ursprungsverband und der Tschechischen Aikidō-Association beheimatet sind. Die restlichen Mitglieder verteilen sich auf kleinere Verbände.

2003 zog Martin Švihla nach Prag – auch wegen des Aikidō-Angebots, wie er gesteht. Damit er nicht nur von den Erfahrungen eines einzelnen Aikidōka lernt, meldete er sich bei mehreren Kursen an. Und 2007 gründete Švihla mit dem „Aikido Prag Vinohrady“ seinen eigenen Verein. „Wir haben auch viele Nicht-Tschechen bei uns. Daher wird oft Englisch gesprochen“, erzählt der Träger des 4. Dans, der für die Vertretung seines Verbands in der internationalen Aikidō-Organisation zuständig ist.

Eine Hilfe für den Alltag
Für ihn ist Aikidō mehr als nur ein Sport – es ist eine Lebensphilosophie. „Von außen mag es so aussehen, als sei Aikidō eine Kampfdisziplin wie Judo oder Karate. Aber in erster Linie geht es uns darum, gerade solche Kampfsituationen zu vermeiden“, sagt der 38-Jährige und ergänzt: „Aikidō verändert den Menschen und auch sein Verhalten gegenüber anderen. Druck und Stress auszuhalten, hilft vor allem auch im Alltag weiter.“

In seinen Trainingsstunden beobachtet Švihla häufig, dass Neueinsteiger ihre Kraft und ihr Umfeld nicht einschätzen können. Entweder gehen sie zu zaghaft vor oder verhalten sich zu grob. Wenige Einheiten später wissen die Neulinge um ihre Kraft, verhalten sich angemessener in der Zusammenarbeit mit ihrem Partner und nehmen auch ihre Umgebung viel bewusster war.

Gerade die Gewaltlosigkeit macht Aikidō, obwohl für jüngere Sportler vorgesehen, auch für ältere Menschen interessant. So konnte Švihla bereits einige weit über 50-Jährige zu Trainingseinheiten begrüßen. „Vor kurzem war sogar ein 70-jähriger Aikidōka von einem anderen Verein zu Gast“, erzählt er. Neben der Altersklasse und der Nationalität ist auch der Berufsstand bunt gemischt. Einzig fehl am Platz sind Personen, die auf der Suche nach einer Möglichkeit zum Kämpfen sind. „Diese Leute merken aber schnell, dass sie bei uns nicht lernen, wie man andere schlägt.

Häufig tauchen sie beim nächsten Mal trotzdem wieder auf, weil Aikidō ihnen hilft, andere Wege zu finden“, sagt Švihla. Oft kommen im Training auch traditionelle japanische Waffen wie Schwerter oder Messer aus Holz zum Einsatz. Dass Aikidō, wie zwar bei Švihla geschehen, im Ernstfall helfen könne, darauf sollte man sich allerdings nicht verlassen, sagt er: „Normalerweise hat ein Unbewaffneter in so einer Konstellation kaum eine Chance. Aber Aikidō hilft uns, gar nicht erst in so eine Situation zu geraten. Denn wir lehren den Konflikt zu lösen, bevor er eskalieren kann.“