Vom Proletarierkind zum Sozialreformer

Vom Proletarierkind zum Sozialreformer

Ferdinand Hanusch gilt als einer der ersten Politiker, die sich für eine Sozialgesetzgebung stark machten

22. 5. 2013 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: APZ

„Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wiederaufzurichten.“ So Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1901. Nicht alle Künstler hielten sich an den Leitsatz Seiner Kaiserlichen Majestät. So auch der mährische Arbeiterdichter Ferdinand Hanusch. Er gehörte zu jener Gruppe von Autoren, die den Zorn Wilhelm II. provozierten. Als Arbeiterdichter deckten sie schonungslos die Ausbeutung der Proletarier auf und weigerten sich, im Sinne des Kaisers Literatur zum Opium der kleinen Leute verkommen zu lassen.

Innerhalb seiner nur zweijährigen Amtszeit als Sozialminister gestaltete er maßgeblich die österreichische Sozialpolitik mit. So setzte er den Acht-Stunden-Tag durch, erwirkte einen Mindestlohn für Arbeiter sowie bezahlten Urlaub und initiierte die Schaffung von Betriebsräten und den Aufbau der Sozialversicherung. Damit schuf Hanusch jene Gesetzgebung, die heute die selbstverständliche Grundlage eines sozialen und demokratischen Rechtsstaats bildet. Als der große Reformer, der im Parlament eine Sozialgesetzgebung durchsetzte, die im damaligen Europa einzigartig war und anderen europäischen Staaten als Vorbild diente, ist Hanusch heute noch bekannt. In Wien erinnern an ihn das Hanusch-Krankenhaus, der Hanusch-Hof und das Republikdenkmal, wo sich seine Büste neben jenen der Politiker Victor Adler und Jakob Reumann befindet. Auch im übrigen Österreich sind Straßen und Plätze nach dem bedeutendsten Sozialpolitiker Österreichs seit dem 1. Weltkrieg benannt.

Dass Hanusch neben seiner rastlosen Tätigkeit als Gewerkschaftssekretär, Abgeordneter und Minister 22 Bücher geschrieben hat, dürfte vermutlich auch in Österreich nur wenigen bekannt sein. In seiner Heimat, im bis 1946 überwiegend deutschsprachigen mährischen Kuhländchen existiert keinerlei öffentliche Erinnerung an Hanusch. Schon vor der Vertreibung wurde sein Engagement für soziale Gerechtigkeit und für die Gewerkschaftsbewegung von den meist konservativen deutschen Heimatforschern des Kuhländchens kaum gewürdigt. Da er die Revolution ablehnte und auf demokratischem Weg die Rechte der Arbeiter zu realisieren versuchte, galt er Marxisten und Kommunisten wiederum als zu bürgerlich-konservativ. So fand er auch während der Zeit des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei keine gebührende Beachtung.

Blind für das Elend
Wie ist es zu erklären, dass in einer abgelegen Provinz ein so engagierter Sozialreformer und Arbeiterdichter wie Hanusch heranwächst? Innerhalb des Habsburger Vielvölkerstaats gehörten Böhmen und Mähren zu den Ländern, in denen die Industrialisierung im Verlauf des 19. Jahrhunderts am weitesten fortgeschritten war. Dies galt vor allem für die Textilindustrie in Nordböhmen und Nordmähren mit überwiegend von Deutschen bewohnten Zentren. Entsprechend wuchs in diesen Regionen das Heer der sozial Deklassierten. Am größten war die Not der Hausweber, nachdem sich in den Städten sowie in den kleineren Ortschaften die Textilproduktion auf mechanischen Webstühlen durchsetzte. Die Hausweber wurden gezwungen, ihre Ware für zunehmend geringere Löhne zu verkaufen. Noch ein halbes Jahrhundert nach dem gescheiterten Weberaufstand in Schlesien lebten sie in unvorstellbarer Armut. In Mähren betrug die tägliche Arbeitszeit der Heimweber um 1904 zwischen 13 und 15 Stunden, der Durchschnittslohn aber nur ein Viertel des ohnehin niedrigen Lohnes der Fabrikarbeiter. Dass Kinder ab einem Alter von fünf Jahren arbeiteten, war unter Hauswebern keine Ausnahme.

Mit Schikanen, Spitzeldiensten und Gefängnisstrafen versuchte die kaiserliche Regierung den sozialen Initiativen der Arbeitervereine zu kontern. Adel und Bürgertum der Donaumonarchie waren weitgehend blind für das erbärmliche Los des Proletariats. In einem Lesebuch für allgemeine Volksschulen aus dem Jahr 1894 wird die wirtschaftliche Lage in Nordböhmen und Nordmähren so beschrieben: „An Gewerbetätigkeit im großen und im kleinen ist das Sudetengebiet der reichste und wichtigste Theil des Kaiserstaates. Es hat nicht nur die zahlreichsten sondern auch die mannigfaltigsten Fabriken und liefert Waren von solcher Güte und Billigkeit, daß deren Absatz in die fernsten Länder der Erde reicht“.

Gegen eine derartige Verharmlosung der Lebenswirklichkeit der Arbeiter, die diesen Reichtum erst geschaffen hatten, schrieb Ferdinand Hanusch an. Wie ein Chronist hielt er das Weberelend in seinen stark autobiografisch geprägten Erzählungen und Dramen fest.

Fabrikarbeiter mit 14 Jahren
Ferdinand Hanusch wurde 1866 in Wigstadtl (heute Vítkov), etwa 40 Kilometer östlich von Olomouc geboren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zählte der Ort rund 5.000 Einwohner, die zum größten Teil von der Heimweberei oder der Arbeit in einer der neuen Textilfabriken lebten. Als Kind armer Hausweber hatte Hanusch Not und Entbehrung von früh an am eigenen Leib erfahren. Noch vor seiner Geburt starb sein Vater. Hanuschs Mutter musste daher allein für die Familie sorgen. Mit ihrer Heimarbeit konnte sie Ferdinand und die beiden älteren Brüder, die früh verstarben, nicht ernähren.

Wenn er seiner Mutter bei der Webstuhlarbeit oder dem Sammeln von Reisig in den Wäldern nicht zur Hand gehen musste, verbrachte der kleine Ferdinand die Wintermonate meist im Bett, weil das Geld zum Heizen fehlte. Seine Schulbildung in einer fünfklassigen Volksschule fiel eher dürftig aus. Im Winter fehlten ihm die Schuhe, um die Schule zu besuchen. In der übrigen Zeit ließ ihn die Mutter, die ihn als Arbeitskraft brauchte, nur unregelmäßig die Schule besuchen. Hanusch selbst war froh, Zuhause bleiben zu können, weil er oft Prügel von dem strengen Lehrer wegen seines mangelnden Lerneifers bezog.

Schon früh erlebte er die Härten der Kinderarbeit. Kam er von der Schule heim, musste er sich sofort an das verhasste Spinnrad setzen. Mit 13 Jahren arbeitete Hanusch in den großen Ferien auf dem Bau und musste von morgens bis abends Steine schleppen. Mit 14 Jahren wurde er Fabrikarbeiter in einer Bandfabrik. Dort arbeitete er von Montag bis einschließlich Samstagabend zwölf Stunden am Tag. Dass Hanusch das Weberelend durchbrechen konnte, verdankte er der Fortbildung des örtlichen Arbeitervereins. Die Lektüre der deutschen Klassiker genauso wie die Schriften der Sozialisten eröffneten ihm eine neue Welt. Er ließ sich von der Gewerkschaft zum Redner ausbilden, wurde Gewerkschaftssekretär und bald auch Abgeordneter im Wiener Reichstag. 1918 wurde Hanusch schließlich zum ersten sozialdemokratischen Sozialminister der Republik Österreich ernannt.

Eindrücklich schilderte Hanusch die Not der Weber. So beschrieb er in seiner Erzählung „Der Weberseff“ den Alltag einer Familie: „Das monotone, gleichmäßige Klappern des Webstuhls machte die ganze Stube erzittern und übertönte das Summen des Spulrades und das Lärmen der Kinder. (…) Der Schatten des Webstuhles, in dem die Kinder spielten, konnte das Elend nicht verdecken, das aus diesen drei kleinen Gestalten sprach. Die Lumpen, die die Körper notdürftig bedeckten, waren nicht imstande, Beine und Arme zu verhüllen, die steckenartig an den abgezehrten Körpern hingen. Die aufgeblähten Erdäpfelbäuche standen in schreiendem Gegensatz zu den übrigen Gliedern, während die abnormalen großen Köpfe von den dünnen Hälsen abzubrechen drohten. Bei der geringsten Anstrengung trat bei den Kleinen Atemnot ein und fieberhaft hoben und senkten sich die schwachen Brustkästen.“

Vorbild Gerhart Hauptmann
In der Wiege schreit das neugeborene Kind, im Winkel hockt geistesabwesend und zusammengesunken der alte Vater des Weberseff. „Insgesamt waren acht Personen gezwungen, in dem engen Raume, von dem der Webstuhl allein drei Viertel einnahm, ihr Leben zu verbringen. Die dicke, beängstigende, von Stärkegeruch geschwängerte Luft, die durch die nasse Wolle, die beim Ofen zum Trocknen hing, noch mehr verschlechtert wurde, konnte nur Menschen zum Atmen dienen, die an solch eine Atmosphäre gewöhnt waren.“

Eines der Vorbilder Hanuschs war Gerhart Hauptmann mit seinem Drama „Die Weber“. Der Schriftsteller hatte sich sehr intensiv mit den Berichten und Dokumenten des Weberaufstands 1844 im Eulengebirge befasst. Dennoch ist zu spüren, dass er im Unterschied zu Hanusch nicht selbst in der Haut des Gedemütigten und Gepeinigten gesteckt hatte. Das zeigt zum Beispiel die Beschreibung des Webstuhls, den Hauptmann in romantischen Kontrast zum Großstadtelend mit seinen „Schrecken der Lasterhöhlen und des Verbrechens“ setzt.

„Das Innere dieser halbzerfallenen Berghütten (der Hausweber), in deren Mitte das rhythmische Wuchten des Webstuhls, das Schnalzen und Scheppern des Schiffchens tönte, war gleichsam beim ersten Blick anziehend. Der Webstuhl ist nun mal ein Ding, an dem zu sitzen die Göttin Kirke nicht verschmäht. Und der musikalische Klang ihrer Arbeit über die Insel Oygia verknüpft sich mir mit jedem Webstuhle.“

Gegen die Apathie
Eine solche Ästhetisierung des Webstuhls ist bei Hanusch undenkbar. Oft genug beschrieb er, wie dieser Webstuhl das Leben der Heimarbeiter zerstört: In den engen Häusern lässt er kaum Platz zum Sitzen und Schlafen. 15 Stunden lang dröhnen die Wände von den harten Schlägen. Da pflanzliche Fasern und Tierhaare verarbeitet werden, atmen die Hausweber beständig kleine Partikel ein, die bei den meisten zu tödlichen Lungenkrankheiten führen. Gleichzeitig macht der Klebstoff die Luft feucht und stickig. Die stundenlange Arbeit am Webstuhl erzwingt eine anormale Körperhaltung, die auf die Dauer zu schweren Gelenk- und Knochenschäden führt.

Zum Schreiben fand Hanusch, als er bemerkte, wie seine plastischen Schilderungen aus seiner Kindheit und Jugend und der schließlich erfolgreiche Aufstieg die Hörer tief berührte. Er schien ihnen das Gefühl zu vermitteln, als Gleichgesinnter stellvertretend für die sozial Schwachen zu sprechen. So versuchte Hanusch mit seiner volksnahen Prosa, die Arbeiter aus ihrer politischen Apathie zu befreien.

Für Hanusch hing der Erfolg der Arbeiterbewegung entscheidend von der Weiterbildung der Arbeiterklasse ab. Er kämpfte für den Acht-Stunden-Tag nicht nur, um den Gesundheitszustand der Arbeiter zu verbessern, sondern auch dafür, dass sie die gewonnene Zeit für ihre Fortbildung nutzen können. Sein Anliegen war, die Arbeiterklasse „geistig so weit zu erziehen, dass sie alle anderen Klassen an Intelligenz überragt. Sind wir so weit, dann wollen wir uns eine Gesellschaftsordnung errichten, aufgebaut auf dem Grundsatz: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.“

Hanusch wollte nicht nur den Bildungsrückstand der Arbeiter gegenüber der bürgerlichen Klasse verringern, sondern er strebte eine soziale und intellektuelle Kompetenz der Proletarier an, die letztlich dem Bürgertum überlegen sein sollte. Dabei ging es ihm um mehr als um ein bloßes Faktenwissen. Er setzte sich als Schriftsteller und Sozialpolitiker für ein Wissen ein, das immer zugleich orientiert ist an der Beseitigung derjenigen Faktoren, die einer Realisierung sozialer Gerechtigkeit und einer Demokratisierung im Wege stehen.