„Viele Eltern sind sich der Vorteile nicht bewusst“

„Viele Eltern sind sich der Vorteile nicht bewusst“

Sprachwissenschaftlerin Yüksel Ekinci-Kocks über bilinguale Erziehung und unnötige Bedenken

10. 8. 2016 - Text: Katharina WiegmannInterview: Katharina Wiegmann; Foto: privat

Yüksel Ekinci-Kocks lehrt und forscht an der Fachhochschule Bielefeld unter anderem zu Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Am 8. Oktober ist sie an der Prager Karls-Universität zu Gast und wird einen Vortrag zum Thema halten. Im Gespräch mit PZ-Redakteurin Katharina Wiegmann erklärt sie, welche Fehler Eltern vermeiden sollten, warum Musik hilft und ab wann es zu spät ist, neue Sprachen zu lernen.

Was sollten Eltern wissen, die ihr Kind zweisprachig erziehen wollen?
Eltern mit verschiedenen Erstsprachen sollten ihren Kindern beide Sprachen gleichzeitig beibringen. Sinnvoll ist eine konse­quente personale Trennung der beiden Sprachen: Wenn ein Elternteil immer in der einen, der zweite immer in der anderen Sprache mit dem Kind spricht, lernt es leichter, Unterschiede zwischen den Sprachen zu erkennen. Kinder durchschreiten in einer bilingualen Sprachentwicklung unterschiedliche Phasen. Bis zum Alter von drei Jahren nehmen sie beide Sprachen noch nicht als unterschiedliche und eigenständige Systeme mit individuellem Wortschatz und einzigartiger Grammatik wahr. Ab etwa zwei Jahren setzt allmählich eine Differenzierung ein – die grammatischen Phäno­mene der einen Sprache werden entweder auch auf die andere übertragen oder es kommt zu Mischstrukturen. Ungefähr im dritten Lebensjahr lernt das Kind, die beiden Sprachsysteme voneinander zu unterscheiden.

Welche Faktoren können sich auf den Spracherwerb auswirken?
Das Sprachangebot der Umwelt, die Intensität der Förderung und auch individuelle physische, psychische und emotionale Faktoren. Sehr nützlich ist es, wenn Kleinkindern viel mehrsprachige Literatur vorgelesen wird. Wichtig ist auch, zum Beispiel bei Bilderbüchern, über Bild und Text mit dem Kind zu kommunizieren. Auf jeden Fall empfehle ich Eltern, ihre Kinder so früh wie möglich in bi- oder trilinguale Kindergärten zu schicken, damit sie parallel zu ihren Erstsprachen andere Sprachen lernen können. Anschließend ist aber auch wichtig, dass nach dem Kindergarten in der Grundschule der Kontakt zu den neu erlernten Sprachen nicht abbricht.

Gibt es verschiedene Methoden in der mehrsprachigen Erziehung?
Man sollte das Erlernen der Sprachen so gestalten, dass Kinder Spaß daran haben. Kinder lernen im Alltag, deshalb sollten Eltern ihr Handeln unbedingt sprachlich begleiten. Vor allem ist es wichtig, deutlich zu sprechen und das Sprechtempo zu beachten. Eltern sollten versuchen, alle Sinne der Kinder anzusprechen und Sprache mit Bewegung und Musik zu verbinden.

Inwiefern fördert Musik das Erlernen einer Sprache?
Lieder vermitteln Wortschatz und grammatische Formen. Aus der Verbindung von Sprache, Musik und Rhythmik ergeben sich für die Förderung der Mehrsprachigkeit im Alltag der Kinder zahlreiche Übertragungspunkte. Neben dem Abspeichern längerer Satz- und Wortketten, die sich leichter aus dem Gedächtnis abrufen lassen, wird durch die Koppelung von Sprache und Musik die sensorische Differenzierung durch das Ohr trainiert, die dafür sorgt, das Gehörte richtig abzuspeichern. Kindergärten orientieren sich oft an Immer­sionsmodellen. Immersion bedeutet so etwas wie ein „Sprachbad“, ein richtiges Eintauchen in eine andere Sprache. Grammatik und Wortschatz werden nicht thematisiert. Kinder lernen unbewusst. Am Anfang verstehen sie, dann beginnen sie nach und nach zu sprechen.

Welche Fehler können Eltern machen?
Häufig treten bei den Eltern Zweifel auf, ob die zweisprachige Erziehung wirklich förderlich für ihr Kind ist und ob es letztlich beide Sprachen richtig lernen wird. Durch diese Ängste entsteht oft der Fehler, das Kind ständig zu korrigieren. Sinnvoller wäre es, das Wort ohne jegliche Rückmeldung einfach richtig zu wiederholen. Viele Eltern und Pädagogen befürchten außerdem, dass die gesprochene Sprache des jeweiligen Landes leidet, wenn die Kinder auch andere Sprachen lernen. Das ist wissenschaftlich nicht aktuell. Zwei Erstsprachen von Anfang an befruchten sich gegenseitig – und das fördert Denken und Intelligenz.

Mitunter stottern Kinder – heißt das, sie sind überfordert?
Manchmal verweigert das Kind eine der beiden Sprachen oder fängt an zu stottern. Eltern sind dann schnell verzweifelt und denken, dass sie ihr Kind überfordern. Dabei erwerben die Kinder spielend zwei oder mehr Sprachen. Das Stottern kann bei mehrsprachigen Kindern ein vorüber­gehendes Phänomen sein. Vielen Eltern ist nicht bewusst, welche Vorteile frühkindliche Mehrsprachigkeit hat.

Welche Chancen und Risiken gibt es für Kinder aus mehrsprachigen Haushalten?
Eltern machen sich oft Sorgen, wenn sie im Alltag nicht konsequent eine Sprache beibehalten. Meistens wechseln die Familien bewusst oder unbewusst in einem gesprochenen Satz von einer in die andere Sprache – auch die Kinder. Die Eltern denken dann oft, dass ihr Kind unter doppelter Halbsprachigkeit leidet. Dabei wissen die Kleinen genau, welcher der Gesprächspartner die jeweilige Sprache beherrscht. Sie passen sich einfach dementsprechend an und wechseln zum Beispiel abhängig von den Inhalten.

Ab welchem Alter fällt es Kindern schwer, beide Sprachen in gleichem Umfang zu erlernen?
Wer später lernt, etwa ab sieben oder acht Jahren, wird die neue Sprache oft nicht ohne Akzent sprechen. Früher hat man gesagt, mit zwölf Jahren schließt sich ein Fenster zum mühelosen Sprachlernen, heute sagt man: Die Grammatik lernt man auch später noch gut, aber eher mit dem Kopf als intuitiv, wie Kinder es tun. Sicherlich ist es schwieriger als im Kindesalter, sich eine Sprache im Alter von 40 oder 50 Jahren anzueignen, aber es ist gut möglich. Die Lerner müssen nur die Gelegenheit erhalten, die neue Sprache zu sprechen. Ausschlaggebend ist auch, wie viel sprachlichen Input sie erhalten.