„Unsere Literatur ist mutiger geworden“
Interview

„Unsere Literatur ist mutiger geworden“

Tschechien ist Gastland auf der Leipziger Buchmesse 2019. Und bringt viele interessante Bücher und Autoren mit, verspricht Projektkoordinator Martin Krafl

12. 3. 2019 - Interview: Klaus Hanisch

PZ: Jedes Jahr erscheinen in Deutschland mehr als 70.000 neue Bücher. Warum sollen Deutsche gerade Bücher von tschechischen Autoren lesen?
Martin Krafl: Weil diese Bücher spannend sind. Tschechische Autoren teilen durchaus ähnliche Themen mit den deutschen Schriftstellern, sie verleihen ihnen jedoch jeweils andere Akzente. Das ist zum einen der jeweiligen Erzähltradition geschuldet, zum anderen den unterschiedlichen Rollen, die die tschechische und die deutsche Gesellschaft innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche spielten und spielen.

Welche Themen beschäftigen tschechische Romanciers und Lyriker vor allem?
Nach der Wende 1989 sind in der tschechischen Literatur zahlreiche Prosatexte erschienen, die das Phänomen „Magischer Realismus“ neu belebt haben – als ob diese Verbindung von Fantastik und Realität der Schlüssel dazu wäre, nicht nur über die Absurdität der totalitären Zeit zu sprechen, sondern auch das Instrument einer unmittelbaren Reaktion auf den turbulenten Gesellschaftswandel der 90er Jahre. Außerdem finden wir in den tschechischen Büchern oft einen Blick auf die jüngere Vergangenheit. Erst die gegenwärtige jüngere Schriftsteller-Generation kehrt dahin zurück, Tabuthemen der tschechischen Geschichte aufzuschließen. Auch die dramatische Unsicherheit, in der sich Familien- und Freundschaftsbande auflösen, wird thematisiert.

Die Revolution von 1989, also vor immerhin schon 30 Jahren, spielt also noch immer eine große Rolle in der tschechischen Literatur?
Natürlich. Viele Autoren beschäftigen sich mit dem Leben nach der Wende in Mittel- und Osteuropa. Besonders die Generation, die in den 90er Jahren in die Literatur ihren Einstieg fand, war vor die Aufgabe gestellt, Neues zu entdecken. Und das nicht nur in der Geschichte der eigenen Nation, die durch die offizielle Ideologie verzerrt war, sondern auch in einer anderen Welt, die sich noch für die Generation ihrer Eltern hinter dem Eisernen Vorhang befand.

Zuletzt wurden fünf tschechische Titel pro Jahr ins Deutsche übersetzt. Nun werden in Leipzig gleich 70 Neuerscheinungen aus Tschechien vorgestellt, die Hälfte davon Romane. Sind Werke von tschechischen Autoren in erster Linie Kunst oder ein Spiegelbild aktueller Entwicklungen in Gesellschaft und Politik?
Aktuelle Werke vertreten meiner Meinung nach beide Varianten.

Im Vorfeld der Buchmesse hieß es, man habe ein wenig vergessen, wie wichtig Nachbarschaft ist und dass sie auf Nähe und gegenseitiger Kenntnis beruht. Wie wird die deutsch-tschechische Nachbarschaft derzeit in tschechischen Büchern dargestellt und wie wird der Stand der deutsch-tschechischen Beziehungen darin beschrieben?
Über den Stand der deutsch-tschechischen Beziehungen schreibt man eher in den politischen beziehungsweise diplomatischen Berichten. In der Belletristik liest man über alltägliche Geschichten, die beweisen, dass unsere Nachbarschaft eine komplizierte Vergangenheit hat. Sie zeigen aber auch, dass wir friedlich miteinander in derselben Welt mit ähnlichen alltäglichen Problemen und Erlebnissen leben.

Den Gastlandauftritt begleiten 70 Neuübersetzungen. | © Leipziger Buchmesse

Tschechien war vor fast einem Vierteljahrhundert letztmals Gastland bei der Leipziger Buchmesse. Wie hat sich die Literatur dort seitdem verändert?
Sie ist offener, mutiger und bunter. Und unter den gegenwärtigen Autoren sind mehr Frauen.

Welchen Stellenwert hat für Sie Tschechien als Literaturland, 35 Jahre nach dem ersten und einzigen Nobelpreis für einen Tschechen?
Ich glaube an unsere Autorinnen und Autoren. Als ich gefragt wurde, ob ich den Gastlandauftritt auf der Leipziger Buchmesse 2019 vorbereiten möchte, habe ich deshalb keine Sekunde mit der positiven Antwort gezögert.

Insgesamt kommen 55 tschechische Schriftsteller nach Leipzig. Nach welchen Kriterien wurden sie für die Messe ausgewählt?
Sie wurden von 14 Experten nominiert, die dem Dramaturgischen Rat des Projekts angehören. Es sind Schriftsteller, die bereits über deutsche Übersetzungen ihrer Werke verfügen, sowie Autoren mit Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Markt. Dabei sind auch diejenigen, die zwar noch keine deutsche Übersetzung haben, aber interessante Bücher schreiben und in den deutschsprachigen Ländern entdeckt werden sollten.

Auch Stars der tschechischen Comicszene sind auf der Leipziger Buchmesse zu Gast. Ist das für Sie noch Literatur?
Selbstverständlich. Und vor allem beim jungen Publikum sehr gefragt.

Sie verkündeten vorab, eine Reihe von Programmen sei so konzipiert, dass sie zu einem dauerhaften Bestandteil des tschechisch-deutschen Kulturaustausches werden könnten. Woran denken Sie konkret?
An die dauerhafte Zusammenarbeit der kulturellen Institutionen. Ich kann auch einige Beispiele erwähnen: die Mährische Galerie Brünn und die Museen GRASSI werden dank des Tschechischen Kulturjahres in Leipzig in Zukunft bei verschiedenen Projekten kooperieren. Sehr erfolgreich war im Herbst 2018 und Winter 2019 das Residenzprogramm für deutsche und tschechische Schriftsteller in Brünn und Leipzig. Beide Partnerstädte möchten diesen Austausch weiterhin unterstützen und fortsetzen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der wichtigste Kooperationspartner des Projekts Leipzig 2019: der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds.

Zum Ziel des tschechischen Auftritts wurde erklärt, tschechische Literatur nachhaltig im deutschsprachigen Raum zu etablieren. Ist dieses Ziel erreicht, wenn die Absatzzahlen tschechischer Bücher in Deutschland steigen?
Das wäre schön. Ich hoffe, dass die deutschsprachigen Leser den neu übersetzten Autoren aus Tschechien eine Chance geben. Das Ziel wird aber erst erreicht sein, wenn auch in den kommenden Jahren mehrere der neu entdeckten Schriftsteller mit ihren Werken auf dem Buchmarkt sowie in Literaturhäusern und Bibliotheken in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu finden sind.

Krafl leitete fast zehn Jahre die Tschechischen Zentren in Berlin und Wien. | © privat

Martin Krafl
Jahrgang 1971, wurde in Teplice geboren, studierte internationale Beziehungen an der Wirtschaftshochschule in Prag, arbeitete als Publizist, Botschaftsrat und Direktor der Tschechischen Kulturzentren in Berlin (2007-2011) und Wien (2012-2017). Davor war er Sprecher der Kanzlei von Präsident Václav Havel und Pressesprecher des staatlichen TV-Senders Česká televize. Krafl koordiniert den Gastlandauftritt der Tschechischen Republik auf der Leipziger Buchmesse vom 21. bis 24. März 2019. Er ist eingebettet in ein deutsch-tschechisches Kulturjahr (Oktober 2018 bis November 2019) mit Lesungen, Filmen, Konzerten und Ausstellungen. Etwa 130 von ihnen finden bereits während der Buchmesse statt.

Weitere Informationen zum Gastland der Leipziger Buchmesse unter ahojleipzig2019.de

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