Sieben Kilometer oder 67 Jahre

Sieben Kilometer oder 67 Jahre

Tschechien auf der Berlinale? Man musste dieses Jahr schon etwas genauer hinsehen

21. 2. 2013 - Text: Nancy WaldmannText: Nancy Waldmann; Foto: mengamukfilms

 

Tschechische Filme auf der Berlinale 2013 suchen, das ist ein bisschen, als hätte man die falsche Brille aufgesetzt. Tschechien ist einfach der falsche Suchbegriff. Durch Variieren kann man dennoch finden, wonach man eigentlich nicht gesucht hatte. Filme aus dem Tschechien der Gegenwart oder von hierzulande lebenden Regisseuren haben es in diesem Jahr nicht auf die bedeutenden Filmfestspiele geschafft. Ein Tschechien-Bezug fand sich jedoch in zwei Filmbeschreibungen.

Filmklassiker der Tschechoslowakei
„Le Golem“ von 1936, Sektion Retrospektive. Es handelt sich um die Verfilmung eines Klassikers der jüdischen Mythologie und romantischen Legendenbildung. Die Geschichte ist im Prag des 16. Jahrhunderts unter Rudolf II. angesiedelt. Unter dem Herrscher verarmten die Juden der Stadt so sehr, dass sie ihren Rabbi baten, den Golem in der Synagoge – das ist ein schlafender Riese aus Lehm – zum Leben zu erwecken, damit er ihnen helfe. Der Riese aber wird unberechenbar und zerstört alles. Der Golem-Stoff selbst ist ein Klassiker der Filmgeschichte. Allein zwischen 1914 und 1936 wurde er vier Mal verfilmt. Wer zu Anfang der Berlinale zugegen war, konnte sich dieses Beispiel des frühen fantastischen Horrorfilms, gedreht in den Prager Barrandov-Studios, dirigiert vom französischen Regisseur Julien Duvivier, zu Gemüte führen.

Wer gegen Ende des Filmfestivals in Berlin weilte, fand sein Tschechien in einem Streifen der Sektion „Forum“, zu dem geschrieben stand, dass er im polnisch-tschechisch-deutschen Grenzgebiet spielen würde. Diese Ortsbeschreibung diente in ihrer Unbestimmtheit vor allem dazu, eine mentale Landkarte zu kreieren. Man muss sich in dieser Landschaft nicht auskennen, um Stillstand und Verlorenheit zu assoziieren. Und so tat es auch für den Tschechien-Sucher nichts zur Sache, dass der Schauplatz auf polnischer Seite lag und ausschließlich Polnisch gesprochen wurde – wenn überhaupt gesprochen wurde. Er lag einfach in der postsozialistischen Provinz. Der Film „Sieniawka“ zeigt vor allem eine Beobachtung vom Ort und seiner schweigsamen Bewohner: Obdachlose Männer, die in Braunkohle-Wüsten zwischen Birkenwäldern und Fernwärmerohren hausen, andere Männer, die in einer Art Anstalt vor sich hin vegetieren.

Ort der Ruinen
Der Ort „Sieniawka“ steht sinnbildlich für diese Anstalt, ein Krankenhaus für verwirrte und psychisch kranke alte Männer, die von wenigen Krankenschwestern geduldig aber wenig herzlich betreut werden. Eine Handlung gibt es nicht, nur die bisweilen monotone Vorführung der Lethargie des Ortes und seiner Ruinen – damit sind sowohl die Objekte (Kino, LPG, Tagebau) als auch die Menschen gemeint. Filmisch erhalten Orte und Personen die gleiche Aufmerksamkeit, was bedeutet, dass der Ort keine Kulisse für die Personen ist, sondern Ort und Menschen bilden gemeinsam einen Zustand. Wenn es einen Protagonisten gibt, dann ist es der Ort.

In Hochform läuft er auf, wenn die Männer tanzend-wippend Zerstreuung suchen zu plärrender Popmusik der Nullerjahre, die aus einer alten Stereoanlage dröhnt. Wenn sie in einer Ruine abhängen und schlüpfrige Gedichte aus ihrer Jugend vortragen. Oder wenn drei der Gestalten auf einer durchgebogenen Bank sitzen, einer mit Akkordeon, einer mit Ghettoblaster, einer in der Mitte an der kritischen morschen Stelle, jeder völlig bei sich und mit seiner lärmenden Langeweile beschäftigt – dann ist der Zuschauer allein konfrontiert mit den Disharmonien, die die Atmosphäre des Ortes prägen. Darin ist der Film anstrengend, aber konsequent. Selbst experimentierfreudige Berlinale-Zuschauer fanden das nicht immer erträglich, schätzungsweise ein Drittel des Publikums verließ den Saal vorzeitig. Wer blieb, erfuhr von Regisseur Marcin Malaszczak, dass Sieniawka der Ort war, wo er die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht hatte, und dass das Krankenhaus, in dem sein Großvater und seine Tante viele Jahre gearbeitet hatten, ein früheres NS-Zwangsarbeitslager gewesen war. Und dass „Sieniawka“ ohne Plan und Drehbuch entstanden war. Der Takt des Ortes selbst hatte den Film komponiert.

Sieniawka liegt sieben Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt.

Infos und Trailer: www.sieniawka.com