Schön ist keine Alternative zu Alt

Schön ist keine Alternative zu Alt

Seit den fünfziger Jahren prägt der Plattenbau tschechische Städte – und ihre Bewohner

22. 4. 2015 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: UPM

Bilder von grauen, sich anscheinend endlos erstreckenden Plattenbausiedlungen waren im Westen stets eines der wirkungsvollsten Symbole für den als trist empfundenen sozialistischen Lebensalltag. Die in der Fabrik vorproduzierten Gebäude standen für den Architektur gewordenen Entwurf der kommunistischen Gesellschaft: Gleichheit, Kollektivismus, bescheidener Wohlstand für alle – vom Lokführer bis zum Parteifunktionär. Gemäß einer in der Zeitschrift „Sociologický časopis“ veröffentlichten Studie wohnten noch im Jahr 2003 in Tschechien ungefähr 3,1 Millionen Menschen in den Einheitswohnungen.

Dabei ist der Plattenbau in Wirklichkeit eine westeuropäische, genauer: eine französische Erfindung. In den fünfziger Jahren begann in Paris ein Bauexperiment unter Anwendung der vom Ingenieur Raymond Camus entwickelten Großtafelbauweise. Dabei wurden die Apartmentblöcke aus in der Fabrik gegossenen Betonplatten zusammengesetzt. Die Vorteile dieser Bauweise, des „Procédé Camus“: Die traditionell aus vielen verschiedenen handwerklichen Prozessen bestehende Konstruktion wurde durch die Produktion der Platte erheblich verschlankt.

„In der Sowjetunion war man fasziniert von dieser Bauweise“, erzählt Lorenz Findeisen. Der aus Halle an der Saale stammende Filmemacher stellte in der vergangenen Woche seinen Film „Concrete Stories“ im Rahmen der Europäischen Filmtage in Prag vor; eine Dokumentation über das Leben in Plattenbausiedlungen, vor allem in Frankreich, Tschechien und Deutschland. „Stalin hatte eigentlich Angst vor der Moderne und blockierte Innovationen. Die in Frankreich entwickelte Technik schien aber auch in der Sowjetunion als gute Lösung für die herrschende Wohnungsnot“, erzählt der Regisseur, der sich seit mehr als zehn Jahren mit den Geschichten der Wohnblöcke und seiner Bewohner beschäftigt. Die Ausgangslage war im Europa der Nachkriegszeit überall ähnlich. Es wurde schnell viel Wohnraum benötigt. Viele Häuser waren zerstört, die noch stehenden boten oft schlechte Lebensbedingungen. Die neuen, mit Warmwasser und Zentralheizung ausgestatteten Wohnblocks bedeuteten dem gegenüber eine enorme Verbesserung.

Zwischen Graben und Bagger
„Die ideologische Deutung und Vereinnahmung der Plattenbauweise kam eigentlich erst später“, erzählt Findeisen. Dass Kritik am Plattenbau von der sozialistischen Regierung im Laufe der Zeit durchaus als Kritik an der vorgeschriebenen gesellschaftlichen Vision gedeutet wurde, belegt das Verbot des Filmes „Panelstory“ der tschechischen Filmemacherin Věra Chytilová kurz nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1979. Der Film zeigt eine namenlose Siedlung irgendwo in Prag, die noch im Bau begriffen ist. Teilweise sind die neuen Bewohner schon eingezogen. Sie kämpfen sich an Baugräben und Baggern vorbei zu ihren neuen Wohnungen. Die Vereinzelung wird durch das neue Leben in der Siedlung nicht durchbrochen, eher im Gegenteil. Ein erwartungsvoller älterer Herr versucht vergeblich, seinen Nachbarn Privates zu entlocken, in der Eckkneipe findet er an keinem der Tische einen Platz, an dem er willkommen ist. Insgesamt herrscht im neuen Viertel angestrengte Geschäftigkeit, eher Kampfstimmung als Euphorie über das neue Wohnen.

Ganz anders in der Verfilmung der Schostakowitsch-Operette „Moskau, Tscherjomuschki“, deren Handlung in der gleichnamigen 1956 erbauten Trabanten-Wohnsiedlung spielt. Das junge Paar Sascha und Mascha kann sich nichts Schöneres vorstellen, als endlich sein neues Heim zu beziehen und greift zu ungewöhnlichen Mitteln, als ihnen der Schlüssel zunächst verweigert wird. Singend und tanzend lassen sie sich vom gekaperten Baukran auf einer Platte in ihre goldene Zukunft heben.

Notwendig und neu
Auch die DDR bemühte sich um die gesellschaftliche Akzeptanz der neuen Bauweise. In einer ostdeutschen Dokumentation, die Findeisen in Ausschnitten auch in seinen „Concrete Stories“ zeigt, zitiert ein auf dem Kran sitzender Arbeiter den Schriftsteller Neutsch: „Ich hoffe, Genosse, du kennst den Unterschied zwischen Alt und Neu. Ich weiß nicht, ob das Neue immer schön ist. Aber notwendig ist es. Schön ist keine Alternative zu Alt, sondern Neu. Schön muss man eben auch lernen.“ Dieser Ansatz setzte sich teilweise durch – in den ehemaligen Ostblockstaaten genießt das Leben in den Plattenbausiedlungen einen wesentlich besseren Ruf als im Westen. „Das liegt vor allem auch daran, dass Plattenbauten dort ausnahmslos als Sozialwohnungen geplant wurden“, erklärt Findeisen die Unterschiede. So entwickelten sie sich oft zu sozialen Brennpunkten. Östlich des Eisernen Vorhangs hingegen beherbergten die Wolkenkratzer sämtliche Gesellschaftsschichten – und tun dies bis heute. Insgesamt wohnen in Prag rund 40 Prozent der Bewohner in einem „Panelák“, wie die Häuser hier genannt werden.

In Tschechien wurde vor allem Zlín zum Experimentierfeld der architektonischen Moderne. Bereits in den Zwanzigern und Dreißigern entstand hier eine funktionalistische Modellstadt. Ab den fünfziger Jahren wurde die neue Plattenbauweise vom Schuhproduzenten Baťa gefördert, der die Methode für die Errichtung neuer Arbeiterheime interessant fand. Kimberly Zarecor und Eva Špačková fassen die Geschichte der „Paneláky“ in Tschechien und der Slowakei in einem Beitrag für die Zeitschrift „Architektura & Urbanismus“ 2012 folgendermaßen zusammen: In den sechziger Jahren entwickelte sich die Plattenbau-Konstruktion zunächst planvoll und visionär. Das politische Tauwetter dieser Zeit ließ den Architekten freiere Hand bei der Umsetzung ihrer Projekte. Prestige-Siedlungen wie das Lesná-Viertel in Brünn entstanden in dieser Zeit, inspiriert von skandinavischer Architektur und ihrer Verbundenheit zur Natur.

Rückzug ins Private
Ab den siebziger Jahren prägten ökonomische Beschränkungen die Qualität der Bauwerke, die nun immer öfter mitten in den Stadtzentren entstanden. Besonders drastisch ist diese Entwicklung im nordböhmischen Most zu beobachten. Hier wurde in den Jahren 1967 bis 1982 die gesamte historische Altstadt gesprengt und durch Plattenbauten ersetzt, um die Braunkohle­vorkommen unter dem alten Stadtkern zu fördern. „Paneláky wurden für Klatsch und Tratsch gemacht“, erzählt einer von Findeisens namenlosen Bewohnern von Most. „Wahre Freundschaft entsteht hier nicht. Die Leute kritisieren einander eher. Es ist einfach nur ein Ort zum Wohnen.“ Die erzwungene Gleichförmigkeit schien vielerorts in einen Rückzug in die Privatheit und Anonymität zu münden – wie auch Věra Chytilová in ihrer „Panelstory“ zeigt. Hier reißen nicht einmal die einsetzenden Wehen der Nachbarin oder eine sich seit Tagen nicht rührende ältere Dame die Bewohner aus ihrer passiv-aggressiven Lethargie. Die Bemühungen Einzelner werden in Serie abgeschmettert. Nach der Samtenen Revolution konnte die Realität des Plattenbaus unabhängig von der sozialistischen Ideologie betrachtet werden. Trotz aller Mängel waren sie Heimat für Viele geworden, die hohen Kosten für Abrisse sprachen eher für den Erhalt und die Renovierung der Gebäude. Zudem gab es für zahlreiche Bewohner die Möglichkeit, die Wohnungen nun günstig zu erwerben.

Heutzutage wird darüber diskutiert, inwiefern einzelne Siedlungen als Kulturdenkmäler erhaltens- und schützenswert sind. In Prag hat bislang lediglich die Invalidovna-Siedlung diesen Status. Brünn-Lesná hat es auf die Liste der Organisation „DOCOMOMO“ geschafft, die sich für den Erhalt bemerkenswerter moderner Architektur einsetzt. Der größte Schutz für die Häuser, so stellen die Architektinnen Zarecor und Špačková in ihrem Artikel fest, ist jedoch die nach wie vor große Anzahl der Bewohner der Häuser, die sich über die Jahre dort eingerichtet haben. Ein älteres Ehepaar hat Findeisens Filmteam Zutritt zu seiner Wohnung gewährt. Die Frau zog 1968 in die Wohnung, nachdem das alte Zuhause der Familie im Prager Stadtteil Vinohrady den Flammen zum Opfer gefallen war. Ihr Mann zog wenige Jahre später zu ihr. Nun packen sie, nach unglaublichen 47 Jahren, doch noch ihre Habseligkeiten in Umzugskisten. Der „Panelák“ bleibe ein Symbol für die schizophrenen Zeiten der kommunistischen Jahre, erzählt die Frau, wo man in seinen eigenen vier Wänden gesagt und gemacht habe, was man wollte, draußen aber besser geschwiegen hat. Sterben will sie dort nicht.