Fast wie im Märchenwald

Fast wie im Märchenwald

Man muss die Stadt nicht verlassen, um in die Natur zu fliehen. Ein Spaziergang im Prokop-Tal

19. 3. 2015 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton

Über den Charme der Metrostation Stodůlky lässt sich streiten. Plattenbauten und kastenförmige Geschäftsgebäude prägen das Bild, auf der vierspurigen Jeremiáš-Straße verstummt der Lärm auch am frühen Sonntagnachmittag nicht. Blickt man aber nach Süden und Westen, dann weicht das Grau plötzlich Grüntönen. Felder und Wälder gewinnen die Oberhand über Beton und Asphalt. Knapp 20 Minuten U-Bahn-Fahrt und gut zehn Kilometer vom Zentrum entfernt ist die Haltestelle Stodůlky ein guter Ausgangspunkt für eine schnelle und erholsame Flucht aus der Großstadt.

Vom Metro-Ausstieg am Platz Náměstí Junkových geht es zunächst nach Süden. Es gibt mehrere Wege und Trampelpfade, aber kaum Schilder, daher empfiehlt sich eine Karte oder ein ausgeprägter Orientierungssinn, um die Unterführung unter der Poncarova-Brücke in Richtung Řeporyje zu finden. Die erste Spur, die auf die 1974 zu Prag eingemeindete Ansiedlung hindeutet, ist der Eingang zum Freilandmuseum „Řepora středověké městečko“, das an die mittelalterliche Geschichte des Ortes erinnert: Bereits zu Beginn des zwölften Jahrhunderts wurde Řeporyje erstmals erwähnt. Der Legende nach entstand es um ein Zisterzienserkloster, dessen Nonnen Kletten als Heilpflanzen nutzten; daher soll auch der Name des Ortes (von řepík – Klette) kommen.

Wo Gartenzwerge grüßen
Vorbei am Freilandmuseum führt der Weg weiter nach Süden bis zu einem kleinen Bach namens Dalejský potok, der den Wanderer bald zu den ersten Wohnhäusern von Řeporyje führt. Spätestens jetzt hat man die Großstadt hinter sich gelassen. In den Vorgärten grüßen Gartenzwerge, eine Frau klopft Teppiche, während die Märzsonne die Plastikstühle wärmt. Statt Autolärm vernimmt man Vogelgezwitscher und das leise Rauschen des Baches, zwei ältere Männer unterhalten sich laut über die Straße. Graue, verfallende Einfamilienhäuser reihen sich an bunte, frisch gestrichene Fassaden. Überlaufen ist die Siedlung nicht, aber hin und wieder kommen Radfahrer, Spaziergänger oder Reiter vorbei.

Wo der Bach die Hauptstraße (K Třebonicům) erreicht, geht es nach links weiter bis zum größten Platz, dem Řeporyjské náměstí unterhalb der Kirche. Direkt an der Bushaltestelle lädt das Café mit der Aufschrift „Kavárna na náměstí“ zu einer Rast ein. Dass die Kuchen – zum Beispiel Karamell-Käsetorte – mit Liebe selbstgebacken sind, sieht und schmeckt man. Die Sonne scheint in den Innenhof, wo es neben süßen und salzigen Leckereien auch hauseigene Limonaden gibt.

Der größere Teil der Wanderung steht allerdings noch bevor. Vom Café aus sind es nur noch wenige Minuten entlang der Straße, bis vor dem Bahnübergang links ein Fußweg in Richtung des Naturparks „Dalejské a Prokopské údolí“ abbiegt. Das Tal ist ein Ausläufer des Kalksteingebiets Böhmischer Karst und gilt seit 1982 als Nationales Naturdenkmal. Schon vor etwa 30.000 Jahren suchten Menschen in seinen Höhlen Unterschlupf, in der Jungsteinzeit kamen die ersten Bauern. Die größten Eingriffe in die Landschaft folgten im 19. Jahrhundert, als mehrere Steinbrüche zum Abbau von Kalk entstanden. Am Ufer des Bachs siedelten sich außerdem zahlreiche Müller an.

Wie im Märchenwald
Heute hat die Natur das Tal zu großen Teilen zurückerobert. Als Naherholungsgebiet wird es von Spaziergängern, Radfahrern und Joggern gern genutzt. Wegweiser erleichtern die Orientierung und bunte Schautafeln klären über die Landschaft und ihre Geschichte auf. Von vielen historischen Gebäuden – wie etwa den Mühlen – sind aber nur noch Ruinen übrig, die von Gräsern und Bäumen langsam überwuchert werden. Vor allem im ersten, nahe Řeporyje gelegenen Teil des Tals wird aus dem Spaziergang so immer wieder eine Wanderung durch einen verwunschenen Märchenwald, der sich allerdings auch kurzzeitig in ein Kampfgebiet verwandeln kann – wenn nach einer Kurve plötzlich eine Gruppe schwer Bewaffneter in Militärkleidung vor dem Spaziergänger steht. Die beste Taktik ist, die Männer einfach zu ignorieren, die das Gelände nutzen, um in den Ruinen Krieg zu spielen und sich stattdessen an den hochragenden Felsen und ihren freundlichen Gelbtönen zu erfreuen, die in der Nachmittagssonne schimmern.

Je weiter der Weg in Richtung Hlubočepy führt, desto voller wird es auf den Pfaden, die teilweise in asphaltierte Wanderwege übergehen. Ein Spielplatz mit Streichelzoo am Wegrand lockt Eltern mit Kindern an. Wer gerne die Ruhe genießt, sollte vielleicht lieber beizeiten umkehren oder in Richtung Jinonice abbiegen. Andererseits wird der Spaziergänger gerade am Ende des Weges noch einmal mit einem Blick auf die Felsen von Hlubočepy belohnt und kann die Wanderung dort in einer der vielen Kneipen ausklingen lassen oder den Schildern zum Bahnhof Hlubočepy folgen, um in wenigen Minuten per Zug oder Bus wieder in den Großstadt­trubel einzukehren.