Politisches Neuland

Politisches Neuland

Das Buch „Die Einheit“ präsentiert bisher unveröffentlichte Dokumente aus der Wendezeit und lässt die Ereignisse um die Besetzung der deutschen Botschaft in Prag noch einmal aufleben

30. 9. 2015 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: ČTK/Picture-Alliance/Wolfgang Kumm

Ein „historisches Wunder“ sei geschehen, ein „Traum Wirklichkeit geworden“ – mit solchen und ähnlichen Metaphern suchten viele Menschen vor 25 Jahren ebenso wie noch heute die epochalen Veränderungen in Worte zu fassen, die damals in historisch knappster Zeit Deutschland und Europa ein neues Gesicht gaben. Im Mittelpunkt dieser Zeitenwende stand die Wiedererlangung der deutschen Einheit. Viele in Deutschland hatten sie nach vier Jahrzehnten der Trennung und des allmählichen Auseinanderlebens zuletzt allenfalls noch als eine ferne und ungewisse Perspektive empfunden – nichts, was den in kurzatmigen Legislaturperioden bemessenen politischen Alltag prägte. Diesem war es aufge­geben, nicht vom Unerreichbaren und eigentlich schon Unvorstellbaren zu träumen, sondern die Härten der Trennung für die Menschen in mühsamen Schritten erträglicher zu machen. So musste den Deutschen die unverhoffte und von der damaligen Bundesregierung beherzt ergriffene Chance wie ein Geschenk des Himmels erscheinen.

Dabei war die am 3. Oktober 1990 erreichte deutsche Einheit alles andere als ein Wunder oder ein Geschenk des Himmels. Sie war vielmehr das Ergebnis eines zwar unerwartet kurzen, aber dafür umso intensiveren Prozesses zäher Arbeit, der allen Beteiligten das Äußerste an Einsatz, Ausdauer, Inspiration, Augenmaß und Einfallsreichtum abverlangte. Es galt erhebliche Widerstände zu überwinden – vor allem auf Seiten der Verbündeten – und immer wieder Antworten auf Probleme zu finden, von denen in keinem Lehrbuch die Rede war.

Verspätete Ergänzung
Pünktlich zum 25. Jubiläum der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin nun unter dem Titel „Die Einheit“ ein voluminöses, über 800 Seiten starkes Werk erschienen, das – mit den Worten der beiden Bearbeiter Heike Amos und Tim Geiger – den „spezifischen und keinesfalls nebensächlichen Beitrag, den das bundesdeutsche Auswärtige Amt zur Bewerkstelligung der deutschen Einheit leistete“, dokumentiert. Der Band präsentiert 170 „in aller Regel“ bislang unveröffentlichte Dokumente aus den Jahren 1989 und 1990, ganz überwiegend aus den Archiven des Auswärtigen Amtes.

Das vorliegende Buch ist freilich nicht die erste Veröffentlichung ihrer Art, die unmittelbar aus den Quellen über den Weg zur deutschen Einheit Aufschluss gibt. Schon 1998, also im letzten Jahr der Kanzlerschaft Kohls, erschien ein Band mit „Dokumenten zur Deutschlandpolitik“. Diese Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes deckt ziemlich genau den gleichen Zeitraum ab wie das nun herausgegebene Gegenstück „aus dem Maschinenraum der Diplomatie“, nämlich Mitte 1989 bis zum Herbst 1990.

Der Band von 1998 ist jedoch nicht nur seinem Umfang nach (knapp 1.700 Seiten) doppelt so gewichtig, sondern auch seinem Inhalt nach. Aber das dürfte niemanden überraschen, denn die wirklich entscheidenden Gespräche und Verhandlungen, namentlich mit den Präsidenten Bush und Gorbatschow, mit den europäischen Partnern Mitterand und Thatcher, wurden von Kohl geführt und im Bundeskanzleramt vorbereitet. Zudem lagen weite Bereiche der Einigungsproblematik außerhalb der Kompetenzen des Auswärtigen Amtes, angefangen mit dem komplexen Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR bis zu den Finanz- und Währungsfragen.

Insofern ist der neue Band „Die Einheit“ eine gewiss willkommene, aber auch verspätete Ergänzung zu den bereits vorliegenden Dokumentationen des Einigungsprozesses, da ja über die Materialien aus den Akten des Bundeskanzleramtes hinaus seit Jahren auch Veröffentlichungen aus Archivbeständen zum Beispiel der britischen, französischen oder polnischen Regierungen vorliegen.

Dem Dokumententeil ist eine 50 Seiten umfassende Einführung der beiden Bearbeiter vorangestellt. Dieser Text rekapituliert knapp und präzise die politische Entwicklung von den Botschaftsbesetzungen im Sommer und Herbst 1989 über den Fall der Mauer am 9. November 1989, über die ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990 und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen bis hin zu deren Abschluss und zur deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990. Außerdem enthält die Einführung einige Hinweise zu den verschiedenen Kategorien diplomatischen Schriftgutes, nützlich vor allem für Leser, denen solche Lektüre nicht vertraut ist.

„Kein Alleingang“
Es ist bekannt, dass zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundeskanzleramt immer wieder Rivalitäten und Spannungen auftreten. Denn bislang hat noch jeder Bundeskanzler nach einer gewissen Amtszeit seine Freude am Glanz der außenpolitischen Agenda entdeckt und die außen- und sicherheitspolitische Abteilung des Kanzleramtes zur Schaltstelle für bestimmte Bereiche der Außenpolitik gemacht. Nichts anderes galt für den Einigungsprozess, in dem zu manchen Aspekten zwischen beiden Häusern unterschiedliche Auffassungen herrschten.

Einer dieser Aspekte war die Frage der Nato-Zugehörigkeit eines künftigen vereinten Deutschlands. Kohl ließ mit Rückendeckung aus Washington von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, dass Deutschland nach der Vereinigung uneingeschränkt der Nato angehören müsse. Dagegen war man im Auswärtigen Amt zunächst vorsichtiger und versuchte sowjetischen Sicherheitsbedürfnissen durch Formeln entgegenzukommen, dass die Nato territorial nicht näher an die Sowjetunion heranrücken werde.

Wie sehr Kohl darauf bestand, in diesen Fragen das Heft nicht aus der Hand zu geben, erhellt aus einem nun erstmals veröffentlichten (S. 380 f.) persönlichen Schreiben an den „lieben Hans-Dietrich“. Darin rüffelte Kohl seinen Koalitionspartner wegen dessen über eine Nachrichtenagentur verbreiteten Äußerungen zur möglichen „Schaffung neuer Sicherheitsstrukturen“ und teilte ihm „in aller Form (mit), dass ich beide Positionen nicht teile und unterstütze“. Außerdem sei er „nicht bereit zu akzeptieren, dass die Bundesregierung in diesen Fragen ohne jede Rücksprache festgelegt wird.“

Ärger von den Vertriebenen
Ein weiteres Beispiel war die Frage des Zeitpunktes und der Form der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Zwar hatte die Bundesrepublik im Warschauer Vertrag von 1970 die Oder-Neiße-Grenze bereits anerkannt, freilich unter dem bekannten völkerrechtlichen Vorbehalt, nur ein Friedensvertrag mit einem souveränen Gesamtdeutschland könne diese Grenze endgültig festlegen. Polen wollte daher unter allen Umständen einen endgültigen Grenzvertrag noch vor der deutschen Vereinigung erreichen. Genau dies aber suchte Kohl unter Verweis auf das Bundesverfassungsgericht zu vermeiden, wobei wohl letztlich innenpolitische Gründe im Hinblick auf die Ende 1990 anstehenden gesamtdeutschen Wahlen den Ausschlag gaben.

Das Auswärtige Amt war dagegen bereit, auf Polen zuzugehen und im Frühsommer 1990 Gespräche über einen Grenzvertrag aufzunehmen – bis Kohl am 25. Mai energisch intervenierte (S. 517): „Er wolle klarstellen, dass Gespräche mit den Polen ‚nicht in Frage kämen’. (…) Von den Polen lasse er sich nichts vorschreiben. Er habe schon intern genug Ärger, und zwar nicht nur von den Vertriebenenverbänden.“ Schon am 14. Februar hatte Premierministerin Thatcher in einem Gespräch mit Genscher zur Grenze mit Polen geklagt (S. 265), dieser „habe sich in dieser Frage immer klar geäußert, andere jedoch nicht“, womit sie natürlich auf Kohl zielte. Die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrags erfolgte erst am 14. November 1990. Schon im Juni 1990 hatten Bundestag und Volkskammer die Unverletzlichkeit der Grenze zu Polen in gleichlautenden Erklärungen bekräftigt.

Angst vor Massenpanik
Speziell aus Prager Sicht dürften die Dokumente den Leser interessieren, die die dramatischen Ereignisse der wiederholten Besetzung der deutschen Botschaft auf der Prager Kleinseite durch Tausende von DDR-Bürgern noch einmal aufleben lassen. Noch am 5. September war von „347 Gästen in der Botschaft“ und täglich neu hinzukommenden die Rede, wobei die Aufnahmekapazität maximal 430 Personen betrage. Die DDR-Rechtsanwälte Vogel und Gysi kamen am 12. September in die Botschaft, um den dann schon 434 Botschaftsflüchtlingen das Angebot der Straffreiheit nach Rückkehr in die DDR und der Unterstützung bei regulären Ausreiseanträgen zu unterbreiten. Die Niederschriften über die Diskussion (S. 85 ff.) zeugen von dem ausgeprägten Misstrauen hinsichtlich der Verlässlichkeit der Zusagen. Dennoch gingen 322 von ihnen auf das Angebot ein, was nach dem Bericht des damaligen Botschafters Huber „eine soziale Trennung“ bewirkte: „Die Personen, die intellektuell in der Lage waren, das Angebot Prof. Vogels zu erfassen (…), haben die Botschaft verlassen.“

Die anfangs geschätzte Kapazitätsgrenze war bald um ein Vielfaches übertroffen. Eine zweite Mission Vogels vom 26. September war bei dann schon über tausend Flüchtlingen weit weniger erfolgreich; nur 148 Personen waren zur Rückkehr bereit. Laut Botschafter Huber verliefen die Besprechungen jetzt „in einer spannungsgeladenen und von teilweise heftigen Emotionen seitens der Zufluchtsuchenden begleiteten Atmosphäre“, obwohl Vogel nun allen Rückkehrern eine reguläre Ausreise innerhalb eines halben Jahres zusagen und in Bezug auf die erste Rückkehrergruppe schon von einigen bewilligten Übersiedlungen in die Bundesrepublik berichten konnte.

Am 29. September war die Zahl der Flüchtlinge auf über 3.000 gestiegen. Das Deutsche Rote Kreuz bangte um die Statik der Gebäude, berichtete von der prekären Gesundheitslage und zunehmender Brandgefahr und erinnerte sogar an die Möglichkeit einer Massenpanik, vergleichbar den „Vorgängen im Heysel-Stadion“ in Brüssel, wo bei einem Fußballspiel 39 Menschen umkamen und 454 verletzt wurden.

„Anflug von Entsetzen“
Ein weiteres Dokument, ein Abhörprotokoll der Stasi vom 29. September (S. 107 ff.), enthält Mitschnitte von Telefonaten des gerade zur Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York weilenden Genscher, wonach er unter anderem Staatssekretär Sudhoff anwies, „den Botschafter der ČSSR in Bonn ins AA einzubestellen (…) und (ihm) ‚die Hölle heiß’ (zu) machen und (zu) verdeutlichen, ‚es werde nachhaltigste Wirkungen auf die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen haben, sie sollten das nicht unterschätzen‘.“ Ferner habe Genscher die Reaktionen des ČSSR-Außenministers Johanes, mit dem er in New York gesprochen habe, als „Unding“ und aus deutscher Sicht als „völlig unverständlich“ bezeichnet.

Am 30. September traf Genscher in Prag ein. Ein zur Verstärkung aus der Bonner Zentrale nach Prag abgeordneter Diplomat hielt in seinem Tagebuch fest: „Ich stehe direkt am Eingangstor. BM (Bundesminister Genscher) sehr erstaunt, wohl nicht so dramatisch vorgestellt. Anflug von Entsetzen im Blick. Jetzt mitten im Gewühl. Personenschützer werden nervös, überall Flüchtlinge, Durcheinander, alle fühlen, dass etwas geschieht.“ Und später, lange nach den in der allgemeinen Begeisterung untergehenden Worten Genschers „Bin heute gekommen, um Ihnen mitzuteilen …“, heißt es im Tagebuch: „Nach Mitternacht bis ca. 2 Uhr alle Flüchtlinge weg.“ Insgesamt reisten in dieser Nacht rund 6.000 Menschen mit Zügen der DDR-Reichsbahn über die DDR in die Bundesrepublik aus. Bis Anfang November erfolgten zwei weitere Ausreiseaktionen von 7.600 und 9.000, die letzte davon, wenige Tage vor dem Fall der Mauer, führte schon nicht mehr über DDR-Gebiet.

Aufschlussreiche Lektüre
In der Regel gilt für amtliches Schriftgut eine 30-jährige Sperrfrist. Die vorliegende Sammlung ist daher noch unvollständig. Das gilt übrigens auch für die Sonder­edition aus den Akten des Bundeskanzleramtes aus dem Jahre 1998. Um die internen Meinungsbildungsprozesse und Positionsbestimmungen noch genauer nachvollziehen zu können, wäre zum Beispiel die Kenntnis der Diskussionen im Kabinettsausschuss Deutsche Einheit oder in der Direktorenrunde des Auswärtigen Amtes relevant. Aber auch so bietet die vorliegende Sammlung eine spannende und aufschlussreiche Lektüre sowohl für diejenigen, die damals die Ereignisse schon politisch bewusst und nicht selten tief bewegt miterlebt haben, als auch für die Jüngeren, die das aus zweiter Hand Erfahrene anhand von akribischen Gesprächsaufzeichnungen, Weisungen, Berichten, Vermerken und sogar Tagebuchauszügen nachempfinden wollen.

Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess. Hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin. Vandenhoeck & Ruprecht, 1. Auflage 2015, 850 Seiten, gebunden, 34,99, EUR,
ISBN 978-3-525-30076-3