Mutiger Lautmaler

Vor 30 Jahren starb der Schriftsteller Jaroslav Seifert. Er gewann als einziger Tscheche den Nobelpreis für Literatur
13. 1. 2016 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Hana Hamplová
Alles ist Poesie und jeder Mensch ein Dichter. Ein Clown oder ein Akrobat kann ein Gedicht schaffen, ebenso ein Architekt oder ein Arbeiter. Treibt man diese Ideen der Poetisten auf die Spitze, dann hätte jeder den Nobelpreis für Literatur gewinnen können. Gelungen ist es aber als bisher einzigem Tschechen nur Jaroslav Seifert, dem Prager Poeten, der am 10. Januar vor 30 Jahren in seiner Heimatstadt gestorben ist. Viele seiner Gedichte sind voller Optimismus. Doch der Bruch mit dem Kommunismus und wiederholtes Publikationsverbot haben ihre Spuren im Werk des Dichters hinterlassen, dessen großes Thema stets die Liebe geblieben ist.
Er konnte Schlafwagen und Speisewagen besingen („Ó Wagons restaurants a Wagons lits“) und einen Fahrplan zum Gedichtband machen („Kde je můj jízdní řád, ta kniha básnická“). Und er konnte mit Sprache Bilder erschaffen wie wenig andere. Das eheliche Glück sei wie zerbrechliches Glas, schreibt er, und im tschechischen Original hört man die Scherben schon klirren vor lauter „sch“- und „k“-Lauten („To štěstí manželské je jako křehké sklo“).
Geboren am 23. September 1901 war Jaroslav Seifert nach dem Ersten Weltkrieg zunächst ein bedeutender Vertreter der politisch engagierten Proletarischen Poesie, bevor er Mitte der zwanziger Jahre zu einem der wichtigsten Dichter des Poetismus wurde und die Künstlergruppe „Devětsil“ („Pestwurz“) mitgründete, die innerhalb der tschechoslowakischen Avantgarde großen Einfluss ausübte.
Wenige Jahre später war es Seifert, der mit dunklen Vokalen ins kollektive Gedächtnis der Tschechoslowakischen Republik einschrieb, dass es am Morgen des 14. September 1937 trüb gewesen sein muss. „To kalné ráno“ nannte er das Gedicht, das er damals zum Tod von Tomáš Garrigue Masaryk verfasste. Den Refrain „To kalné ráno, to si pamatuj, mé dítě“ („Diesen trüben Morgen, merke dir, mein Kind“) konnten viele noch zitieren, als bald nach dem Tod des Gründungspräsidenten das Münchner Abkommen das Ende der Republik besiegelte. Seifert hatte das Unheil wohl schon im September 1937 kommen sehen, als er dichtete: „Evropo, Evropo, až zvony rozhoupají,/ měla bys první být mezi těmi, kdož lkají“ („Europa, Europa, wenn die Glocken schwingen,/ solltest du zu den ersten gehören, die klagen“). Nachdem das schlimmste Szenario wahr geworden war, reagierte Seifert mit lyrischen Worten voller Patriotismus: „Krásná jako kvítka na modřanském džbánku/ je ta země, která vlastí je ti“ („Schön wie Blümchen auf dem Teich in Modřany/ ist dieses Land, das deine Heimat ist“).
„Moralisch verfaulter Kerl“
Während des Krieges und kurz danach arbeitete Seifert als Journalist, bevor er sich 1950 wieder der Poesie widmete. Er fiel jedoch in Ungnade bei den Vertretern der Kommunistischen Partei, aus der er selbst bereits 1929 ausgeschlossen worden war. So schrieb der Dichter und KSČ-Politiker Ivan Skála damals, Seifert habe „nicht das Recht, die Poesie gegen das Volk zu missbrauchen“. Der Kommunist Gustav Bareš schickte eine Denunziation an Gottwald: „Der mehrfach abtrünnige Seifert (…) dieser moralisch verfaulte Kerl (…) spuckt mit einer Allegorie ins Gesicht unseres volksdemokratischen Regimes.“ Seifert durfte nicht veröffentlichen; erst 1954 konnte seine Sammlung „Maminka“ erscheinen, die wohl zu den kostbarsten Werken der tschechischen Poesie gehört.
Durch das vorübergehende Verbot ließ sich Seifert nicht einschüchtern. Mitte der fünfziger Jahre setzte er sich für inhaftierte Schriftstellerkollegen ein und verteidigte ihr Recht auf Meinungsfreiheit. „Wenn irgendjemand anderes die Wahrheit verschweigt, kann das ein taktisches Manöver sein. Wenn ein Schriftsteller die Wahrheit verschweigt, dann lügt er“, diesen Standpunkt vertrat Seifert schon damals mutig. Ende der sechziger Jahre stand er an der Spitze des Schriftstellerverbandes und protestierte laut gegen die Invasion der sowjetischen Truppen und die repressive Politik der „Normalisierung“. Es folgte ein erneutes Publikationsverbot Anfang der siebziger Jahre. Sein Dichterkollege Jan Skácel schrieb ihm damals: „Auch das Wasser im Fluss der Vergessens friert ein, damit die zu Lebzeiten verbotenen Dichter sich zu Fuß auf den Weg über die Buchten machen können.“ Wenige Jahre später war Seifert einer der ersten Unterzeichner der „Charta 77“.
Danach dauerte es noch ein paar Jahre, bis Seifert Werke wie die Gedichtsammlung „Morový sloup“ („Die Pestsäule“, 1981) und seine Memoiren „Všecky krásy světa“ („Alle Schönheit dieser Welt“, 1979) veröffentlichen konnte. Vom Optimismus seiner poetistischen Phase aus den zwanziger Jahren war zwar nicht mehr viel übrig – die Enttäuschung über die sowjetische Okkupation und ihre Folgen schlug sich auch auf die späteren Gedichte nieder, in denen er vom „verdammten Vogelkäfig Böhmen“ schrieb. Den Glauben an die Liebe verlor er dagegen auch im hohen Alter nicht und dichtete: „Však nejkrásnější ze všech bohů/ je láska.“ („Doch der schönste aller Götter/ ist die Liebe.“)
Als den 83-Jährigen schließlich im Oktober 1984 die Nachricht erreichte, dass ihm der Literaturnobelpreis verliehen werden sollte, blieb eine große Feier zu seinen Ehren aus. Die tschechischen Zeitungen schrieben damals genau zwei Sätze über die Ehrung, die slowakischen einen. Die schwedische Akademie erklärte in ihrer Entscheidung: „Seine Landsleute lesen ihn und lieben ihn, er ist ein Nationaldichter, der Menschen mit literarischer Bildung ansprechen kann und solche, die sein Werk ohne größere Vorbereitung in die Hände bekommen.“ Seifert dagegen fand, er habe den Nobelpreis stellvertretend für seine ganze Generation erhalten. Aus dem Vorwurf, er sei ein zu einfacher Dichter, hatte sich der Prager übrigens nie etwas gemacht. Als den besten Poeten unter seinen Zeitgenossen, zu denen auch Vítězslav Nezval und František Halas gehörten, bezeichnete er einmal seinen Freund Vladimír Holan – im Gegensatz zu Seiferts Gedichten sind die von Holan oft nur sehr schwer zu entschlüsseln.
„Markus von Liberec“
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