Minderheit in der Minderheit

Minderheit in der Minderheit

Im Verein „ARA ART“ organisieren sich schwule und lesbische Roma. Sie kämpfen gegen Homophobie und Rassismus

31. 8. 2016 - Text: Milena Fritzsche

Seine Stimme zittert ein wenig. Von außen kann man nur erahnen, an welche Gefühle sich Jaromír gerade erinnert. Seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Kollegen und Klienten sollen nicht von seiner sexuellen Orientierung erfahren. Aber er will seine Geschichte erzählen. Obwohl sein Englisch sehr gut ist, möchte er über dieses für ihn so persönliche Thema lieber auf Tschechisch sprechen. Doch auch in seiner Muttersprache sucht er nach Worten, um von seinem Leben als Rom und seinem Coming­out zu berichten.

In Prag besucht Jaromír eine internationale Konferenz der Roma aus der LGBT-Community (die englische Abkürzung für die Gemeinschaft der Lesbischen, Schwulen, Bi- und Transsexuellen). Hier trifft der Tscheche auf Menschen, die seine Situation kennen. Sie kommen etwa aus Frankreich, Rumänien, Ungarn, Spanien und Deutschland. Manche haben ihr Comingout noch nicht hinter sich und haben Angst vor den Reaktionen ihres Umfelds. Die Organisatoren sind vorsichtig: Die Konferenz ist nicht öffentlich. In dem geschützten Raum geht es aber sehr herzlich zu. Von einigen wird man als Gast zur Begrüßung umarmt.

Jaromír erzählt, wie er in einer böhmischen Kleinstadt aufgewachsen ist – als einziger Rom in seiner Klasse. „Die anderen Kinder haben nicht mit mir gesprochen.“ Doch seine Lehrerin engagierte eine Psychologin, die mit den Schülern arbeitete. „Das hat sehr geholfen, danach ging es viel besser.“ Seine Homosexualität zu thematisieren, davon war er damals noch weit entfernt. Die Furcht war zu groß, in der Gemeinschaft der Roma nicht mehr willkommen zu sein. Mit 17 Jahren traute er sich schließlich doch und stellte überrascht fest, dass seine Sorge unbegründet war: Eltern und Geschwister reagierten sehr positiv. Dennoch schwieg er zwei weitere Jahre vor seinem besten Freund. „Ich hatte Angst, ihn zu verlieren. Aber als ich mich schließlich outete, sagte er mir, er habe schon lange gewusst, dass ich schwul sei und es sei für ihn vollkommen in Ordnung.“ Jaromír hat in der Arbeit auch Kontakt zu Roma. „Ich vermute, sie ahnen, dass ich schwul bin, aber ich kann mit ihnen unmöglich darüber reden. Die Autorität, die ich im Job brauche, könnte ich dann nicht mehr behaupten.“

Ernstes Thema, gute Stimmung: Besucher der internationalen Konferenz der Roma aus der LGBT-Community tauschten in Prag Erfahrungen aus.

Mehrfache Diskriminierung
Die Mitglieder des Prager Vereins „ARA ART“ engagieren sich seit 2012 für die Rechte der LGBT-Roma, die auf mehreren Ebenen diskriminiert werden: als Roma und aufgrund ihrer sexuellen Identität. Zudem als Homosexuelle in der Gemeinschaft der Roma – und manchmal auch als Roma innerhalb der LGBT-Community. Die Initiative aus Prag lud im vergangenen Jahr zur ersten internationalen Roma-LGBT-Konferenz ein. Dabei verabschiedeten 28 Teilnehmer aus zwölf Ländern eine „Prager Erklärung“, die sie unter anderem beim Europarat einreichten, um auf die Lage der mehrfach diskriminierten Minderheit aufmerksam zu machen.

Gründer und Leiter des Vereins „ARA ART“ ist David Tišer, der aus Pilsen stammt. Seine Familie sei sehr traditionell, erzählt er. Sie sprechen Romani miteinander, Tschechisch lernte er erst in der Schule. Doch das habe er nicht als Problem empfunden: „Alle waren sehr geduldig mit mir.“ Einmal habe ihn ein Mitschüler als „Zigeuner“ beschimpft; der Lehrer habe sofort interveniert und eine Verwarnung ausgesprochen. Tišer betont, dass die eigene Tradition für ihn keineswegs negativ behaftet sei. Im Gegenteil: „Mit der Kultur der Roma habe ich mich immer identifiziert, daran habe ich nie gezweifelt.“ Sein Comingout hatte er mit 23 Jahren, als er bereits eine Weile in Prag lebte und an der Karls-Universität studierte.

Tišers Familie erfuhr von seiner Homosexualität erst durch den teilweise autobiographischen Film „Roma Boys“, für den er das Drehbuch geschrieben hatte und in dem er selbst die Hauptrolle übernahm. Nach der Premiere war er ein halbes Jahr zum Studium in Bulgarien, weit weg von den Reaktionen in der Heimat. „Ich weiß, dass hinter meinem Rücken negativ über mich gesprochen wurde.“ Generell sei Homosexualität ein Tabu in der Gemeinschaft der Roma, meint er. „Es wird auch noch zu oft geglaubt, dass Homosexualität eine Krankheit sei, die geheilt werden könne.“ Insofern habe er mit seiner Familie Glück gehabt: „Es war eigentlich kein großes Thema; sie wollten sogar meinen Freund kennenlernen.“ Doch auch die LGBT-Community sei nicht unbedingt so tolerant, wie man annehmen könnte: „Sie sind selbst eine Minderheit, haben aber wenig Verständnis für unsere Situation.“ Roma werde in Tschechien regelmäßig der Eintritt in Bars für Schwule und Lesben verwehrt, berichtet er.

Dilemma vor dem Gesetz
Derzeit startet „ARA ART“ ein Pilot-Projekt in Prag und anderen Orten. Die Aktivisten richten Stellen ein, an die sich homo­sexuelle Roma zur Beratung wenden können. Ein solches Angebot habe es bislang nur online gegeben. Ausreichend sei das nicht, betont David Tišer. „Die Menschen brauchen jemanden, der ihnen wirklich zuhört und sie vielleicht auch einfach mal in den Arm nimmt und tröstet.“ Auch die gesetzliche Lage sowohl aufnationaler als auch auf europäischer Ebene sei ein Problem: „Wir müssen uns bei einer Anzeige entscheiden, ob man diskriminiert wurde, weil man Roma oder weil man homosexuell ist“, beschreibt Tišer das Dilemma. Die Gesetze müssten flexibler werden und auch multiple Diskriminierung berücksichtigen.

Michal ist zur Konferenz als Moderator geladen. „Ich bin stolz darauf, Rom zu sein“, sagt er. Er habe sich vorgenommen, der Familie von seiner Homo­sexualität zu berichten. Seit Jahren wartet er auf den geeigneten Zeitpunkt, obwohl er keine ablehnenden Reaktionen erwartet. Dass es in der LGBT-Community Vorurteile gegenüber Roma gibt, hat auch er schon erfahren: „Es wird oft gedacht, schwule Roma seien automatisch Prostituierte.“ Auch Jaromír kennt diese Vorurteile: „Die Menschen sagen oft zu mir: ‚Du bist ein anderer Rom.‘ Aber ich bin oft der einzige, den sie persönlich kennen und sie wundern sich, dass ich nicht dem negativ vermittelten Stereotyp entspreche.“

Wenige Tage später auf der großen Parade der „Prague Pride“ wirkt Jaromír wie ausgewechselt. Fröhlich winkt er bekannten Gesichtern und fremden Menschen zu. Er feiert und grinst breit in jede Kamera, die sich auf ihn richtet. Die Stimmung ist ausgelassen, die Schüchternheit, mit der er seine Geschichte erzählt hatte, verschwunden. Vereinzelt protestieren Menschen am Rande der Parade gegen Homosexualität. Ernst nimmt sie niemand. Es wird unbeschwert getanzt. Auch „ARA ART“ ist mit einem eigenen Wagen vertreten. Gut erkennbar ist außen eine große Roma-Flagge befestigt. Einige tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Queer Roma“. Bunte Luftballons wehen im Wind. Die Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Und die Menge jubelt ­Jaromír und den anderen zu.