Interview

„Meine Schnelligkeit habe ich von den Tschechen“

Deutschlands Stürmer-Talent Davie Selke über RB Leipzig, die Nationalelf und seinen tschechischen Großvater

23. 11. 2016 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Ailura, CC BY-SA 3.0 AT

RB Leipzig mischt die Bundesliga auf: Der Aufsteiger ist seit dem Wochenende sensationall Tabellenführer und hat Dauermeister Bayern München auf den zweiten Platz verdrängt. Davie Selke trug in der vergangenen Saison mit seinen zehn Treffern wesentlich zum Aufstieg von RB in die Bundesliga bei. Sein Wechsel von Erstligist Werder Bremen zum damaligen Zweitligisten sorgte im Sommer 2015 für große Aufregung. Acht Millionen Euro überwies der erst im Mai 2009 gegründete Verein an die Weser. Denn der 21-Jährige gilt als eine der größten Nachwuchshoffnungen für die deutsche Weltmeisterelf. Selke wurde in Schwaben geboren, sein Vater stammt aus Äthiopien – und seine Mutter Andrea aus Tschechien.

Die EM in Frankreich zeigte einen Trend zurück zu echten Mittelstürmern. Solche Angreifer gibt es in Deutschland neben ­Mario Gomez derzeit kaum. Sie wurden nach der EM bereits als sein möglicher Nachfolger genannt. Belastet Sie das oder sehen Sie es als Chance, sofern Sie sich in der Bundesliga durchsetzen?
Nein, das belastet mich nicht. Mario Gomez war schon immer ein Spieler und Stürmertyp, an dem ich mich orientiert habe, schon in der Jugendzeit. Daher nehme ich diese Art von Vergleich als etwas Positives an. Als etwas, was mich anspornt, weiter an mir zu arbeiten.

Muss Ihr nächstes Ziel jetzt nicht zwangsläufig eine gute Bundesliga-Performance mit RB und dann die WM 2018 sein?
Ich schaue nicht so weit in die Zukunft. Im Fußball kann man nicht so klar und sicher planen, wie man es sich vielleicht manchmal wünschen würde. Natürlich würde ich mich darüber freuen, wenn es so für mich läuft. Aber ich versuche, mich jetzt erstmal auf meine Leistung bei RB Leipzig und die Bundesliga zu konzentrieren, alles andere kommt dann im Zweifel von alleine. Dafür muss ich aber jeden Tag hart arbeiten und versuchen, mich immer ein Stück weiter zu entwickeln.

Selke hebt ab (im Qualifikationsspiel zur U21-EM gegen Österreich im Oktober 2016) | © Ailura, CC-BY-SA 3.0 AT

Sie erklärten einmal, Ihre ­Dy­­­­na­­­mik komme von der tschechi­schen Seite Ihrer Fa­mi­lie. Was ist so dynamisch an den Tsche­chen?
Ich denke, dass die Ausdauer von der äthiopischen Seite kommt und die Schnelligkeit vom tschechischen Part meiner Familie.

Was haben Sie noch von der tschechischen Familie übernommen?
Auf jeden Fall schon einmal die Sprache. Ich verstehe fast alles auf Tschechisch, sprechen kann ich es auch einigermaßen. Natürlich ist mir durch meine Verwandten und viele Besuche sowie Urlaube bei meiner tschechischen Familie auch die Kultur vertraut und bekannt.

Wie verständigen Sie sich mit Ihren tschechischen Verwandten, wenn es mal mit der Sprache nicht klappt?
Wir haben über die Zeit sehr gut gelernt uns zu verständigen. Und wenn es wirklich mal mit der Verständigung hakt, dann übersetzt meine Mutter notfalls auch. Da gibt es also keinerlei Probleme.

Neben Vater und Mutter nannten Sie vor allem auch Ihren tschechischen Großvater als Stütze. Wie half und hilft er Ihnen?
Das stimmt, mein Opa ist mit mir damals zu vielen Fußballturnieren gefahren und hat mich begleitet. Zudem hat er auf dem Platz sehr oft mit mir Fußball gespielt, vor allem in den Urlauben in Tschechien. Er hat mich immer sehr unterstützt. Bis ich ungefähr 15 Jahre alt war, haben wir die Urlaube meist in Lanškroun verbracht, weil dort Verwandte meiner Mutter und Großeltern leben.

Wie oft besuchen Sie Ihn und Ihre Verwandtschaft dort?
Ich sehe meine Verwandtschaft aus Tschechien leider nur unregelmäßig. Wenn ich es zeitlich einrichten kann, versuche ich dies aber ein bis zwei Mal im Jahr zu den Feiertagen.

In Bremen hatten Sie viele Gemeinsamkeiten mit dem tschechischen Nationalspieler Theo Gebre Selassie: Beide Väter kommen aus Äthiopien, beide Mütter sind Tschechinnen. Sie nannten ihn Ihren Lehrer für Tschechisch. Haben Sie noch etwas von diesem erfahrenen Nationalspieler gelernt?
Gebre hat eine Top-Einstellung, ist sehr professionell und gibt immer alles auf dem Platz. In meiner ersten Zeit in Bremen, als ich noch sehr jung war, habe ich natürlich auch von Spielern wie ihm profitiert und mir Dinge abschauen können, die mir für meine Entwicklung geholfen haben.

Gebre Selassie beklagte vor seinem Wechsel in die Bundesliga den Rassismus in der tschechischen Liga. Haben Sie auch darüber gesprochen und ist Ihnen in Deutschland Ähnliches widerfahren?
Nein. Ich habe glücklicherweise nie solche Erfahrungen gemacht oder bin nie derlei Vorbehalten begegnet. Deutschland ist für mich Heimat, ich bin hier geboren und habe mein ganzes Leben hier verbracht, von daher fühle ich mich hier auch alles andere als fremd.

Besitzen Sie auch die tschechische Staatsbürgerschaft?
Nein, ich habe nur die deutsche.

Einige deutsche U-Nationalspieler haben sich für andere A-Nationalmannschaften entschieden, darunter U21-Europa­meister wie Fabian Johnson (USA) und Sebastian Boenisch (Polen). Wäre für Sie auch die tschechische Elf eine Option?
Ich möchte zunächst natürlich versuchen, irgendwann den Sprung in die deutsche A-National­mannschaft zu schaffen, auch weil ich die ganzen letzten Jahre in den U-National­mannschaften von Deutschland gespielt habe. Das ist mein großes Ziel. Deshalb habe ich mich mit dem Gedanken für Tschechien zu spielen, nicht beschäftigt.

Davie Selke neben Matthias Ginter und Max Meyer vor einem U21-Länderspiel | © Sven Mandel, CC-BY-SA-4.0

Was überwog nach Olympia bei Ihnen: Trauer über den Verlust von Gold oder Freude über den Gewinn von Silber?
Natürlich war ich kurz nach dem Abpfiff sehr enttäuscht – wenn man so knapp die Goldmedaille nach Elfmeterschießen verpasst, ist das im ersten Moment natürlich bitter. Aber mit der Zeit wächst auch die Freude über die Silbermedaille und dass man Teil dieser starken Mannschaft und der größten Sportveranstaltung der Welt sein durfte und sogar etwas gewinnt. Das macht einen natürlich auch stolz. Die fantastischen Erinnerungen und Eindrücke kann mir und uns niemand mehr nehmen. Ich werde all das mein Leben lang nicht vergessen und immer in mir tragen.

Sie sagten bereits vor Olympia, dass die Spiele nach dem Gewinn der U19-EM der nächste Karrieresprung seien. Hat Sie der Verlauf des Turniers, also das Erreichen des Finals im berühmten Maracana-Stadion in Rio de Janeiro, überrascht?
Nein, überrascht hat es mich eigentlich nicht so richtig. Auch wenn vorher einige Stimmen von außen behaupteten, dass wir eine „zusammengewürfelte“ oder zumindest nicht richtig eingespielte Mannschaft seien. Mir war bewusst, wie viel Qualität in unserem Team steckt und wie viele gute Einzelspieler wir haben, die trotz ihres jungen Alters zu einem großen Teil schon einen hohen Stellenwert in ihren Bundesliga-Clubs haben und dort nicht umsonst Stammkräfte sind.

Hat Sie auch Ihre tschechische Familie zur olympischen Silbermedaille beglückwünscht?
Selbstverständlich! Meine ganze Familie hat zuhause mitgefiebert und mir gratuliert.


Im Profil: Davie Selke
Während Mutter Andrea in Stuttgart lebt, bildet Davie Selke in Leipzig eine Wohngemeinschaft mit seinem Vater Teddy. Seine ­Karriere begann er bei verschiedenen Vereinen in seiner schwäbischen ­Heimat, unter anderem beim VfB Stuttgart und den Stuttgarter ­Kickers. 2009 schloss er sich der TSG Hoffenheim und im Januar 2013 Werder Bremen an. Als dort sein Wechsel zum RB Leipzig bekannt wurde, musste Selke eine Weile von Bodyguards beschützt werden. Werder-Fans verübelten dem Stammspieler, dass er sich ausgerechnet dem von Red-Bull-Eigentümer Dietrich Mateschitz mit bisher angeblich rund 100 Millionen Euro finanzierten ­Retortenklub anschloss. Davie Selke spielt in Leipzig – nach seinen Einsätzen für die deutsche Auswahl bei den Olympischen Spielen – derzeit eine Joker-Rolle. Als Stärke erkannten Experten bei ihm einen ausgeprägten Torinstinkt, als Schwäche seine defensive Disziplin und Kombinationsgabe. Er müsse „noch mehr Kon­stanz in sein Spiel reinbekommen“, ­bemerkte RB-Sportdirektor Ralf Rangnick zu Saisonbeginn, fügte aber zugleich an, dass bei Selke „das Ende der Leistungsfähigkeit noch lange nicht abzusehen“ sei.

Inter­national machte er erstmals 2012 auf sich aufmerksam, als Selke mit der deutschen U17 Vize-Europameister wurde. Bei der U19-EM vor zwei Jahren in Ungarn schoss er die deutsche Auswahl zum Titel und wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt. In den letzten Wochen trug der 1,92 Meter große Stürmer mit seinen Toren maßgeblich dazu bei, dass sich die deutsche U21 für die Europameisterschaft 2017 in Polen qualifizierte. Bundestrainer Joachim Löw gab zuletzt mehreren Neulingen eine Chance, Selke war bisher noch nicht dabei. Für Kritiker muss er in den nächsten Jahren beweisen, ob er zum Nachfolger von klassischen Torjägern und deutschen Idolen wie Gerd Müller, Rudi Völler oder Miroslav Klose taugt oder auf einer Stufe mit bei der Nationalelf weniger gefragten Stürmern wie Stefan Kießling oder Kevin Kuranyi ankommt. Oder ob Davie Selke seinem Vorbild Mario Gomez immer ähnlicher wird, mit dem ihn jetzt schon Statur und Spielanlage verbinden – und dem man vergleichbare spielerische Defizite wie ihm nachsagt.