Lernen ohne Klassenzimmer

Lernen ohne Klassenzimmer

Eltern dürfen ihre Kinder in Tschechien zu Hause unterrichten oder private Lehrer engagieren

2. 3. 2016 - Text: Jana WagnerText: Jana Wagner; Foto: APZ

Der Englischunterricht findet auf dem Teppichboden statt. Mal sitzen die Erst- und Zweitklässler Péťa, Otík und Sofka still, dann schaukeln sie unruhig herum. Am Lernspiel beteiligen sie sich trotzdem aktiv. Unter Anleitung von Tereza Jamuburová verstecken sie Karten, erraten, welches Tier fehlt, und wie es auf Englisch heißt.

Die 24-jährige Lehramtsstudentin unterrichtet einmal pro Woche in der Gemeinschaftsschule „Za výlohou“ („Hinter dem Schaufenster“) im Prager Stadtteil Bubeneč. Sie spricht ausschließlich Englisch mit den Kindern, die ihre Fragen und Anweisungen schon gut verstehen. Doch auch wenn der Unterricht professionell aussieht – offiziell ist „Hinter dem Schaufenster“ gar keine Schule. In Deutschland würden die Eltern von Péťa, Otík und Sofka sogar gegen das Gesetz verstoßen. Tschechien hat aber keine umfassende Schul-, sondern nur eine Unterrichtspflicht. Die Lehrpläne müssen eingehalten werden, die Kinder müssen den Stoff aber nicht zwingend in der Schule lernen.

Regulär ist Heimunterricht hierzulande bis zur fünften Klasse erlaubt. Allerdings entscheiden sich nicht viele Eltern für diesen Bildungsweg. Gut 1.300 tschechische Grundschüler der Primarstufe, also der ersten bis fünften Klasse, werden laut Schulministerium derzeit zu Hause unterrichtet. Im Rahmen eines Pilotprojektes lernen außerdem 328 Sechst- bis Neuntklässler außerhalb eines herkömmlichen Klassenzimmers.

Individuelle Bildung, wie der tschechische Fachbegriff dafür lautet, kann unterschiedlich aussehen. Häufig sind die Eltern die Lehrer. Manche Kinder werden in kleinen Gruppen abwechselnd von den Müttern unterrichtet. Andere von Leuten wie Markéta Klempířová, der Gründerin der Zwergschule „Hinter dem Schaufenster“.  

Der Klassenraum ist ihr Wohnzimmer. Es ist das erste Jahr, vieles ist noch ein Experiment. Die Eltern zahlen im Monat 6.500 Kronen (rund 240 Euro) pro Kind. Bis zu zwölf Schüler könnte Klempířová aufnehmen. Bislang sind aber nur vier angemeldet. Zwei Erstklässler, zwei Zweitklässler. Manchmal schaut auch ein Mädchen im Vorschulalter vorbei. Sie lernen alle zusammen, montags bis donnerstags von neun bis 14 Uhr. „Das funktioniert gut“, sagt Klempířová. Die Zweitklässler bräuchten aber auch ältere Kinder, die ihnen mal helfen könnten.

Gegen Sexualkunde
Um die Gemeinschaftsschule zu leiten, müsste Klempířová keine ausgebildete Lehrerin sein. Sie ist es aber, und sie ist froh über die Freiheiten, die ihr diese Form des Unterrichtens eröffnet. „Lob oder Kritik bekommen die Kinder unmittelbar und individuell. Oft können sie ihre Leistungen auch gut selbst einschätzen“, erklärt sie, wie sie weitgehend ohne Noten auskommt. Zweimal jährlich wird dennoch ganz traditionell geprüft. Alle Kinder sind an einer regulären Schule als Heimlerner angemeldet und nur wenn die Schulbehörde feststellt, dass die Kinder die Anforderungen der Lehrpläne erfüllen, dürfen sie weiterhin den häuslichen Unterricht besuchen.

Das gilt auch für die Kinder von Kristýna und Martin Klusoň. Ihre sechsjährige Tochter ist bereits das vierte Kind, das Kristýna Klusoňová zu Hause unterrichtet. Die Erstgeborene ist mittlerweile 16 Jahre alt. „Materielle Werte können ja sehr schön sein. Wichtiger ist uns aber, in unsere Kinder zu investieren“, erzählt der Vater. Stolz zeigt er Fotos von Bildungsreisen, die den häuslichen Unterricht ergänzen. Bilder aus den USA sind dabei und aus Berlin, von Ausflügen in Museen und in die Natur.

Das Ehepaar Kluso unterrichtet vier Töchter zu Hause
Das Ehepaar Kluso unterrichtet vier Töchter zu Hause

Klusoňová arbeitet in der Firma ihres Mannes mit, ihre Hauptaufgabe sieht sie aber in der Bildung und Erziehung der Kinder. Sie unterrichtet die Geschwister gemeinsam, gibt ihnen aber unterschiedliche Aufgaben. Wer in Mathe gut ist, bekommt ein anspruchsvolles Mathebuch. Wer sich nicht so für Chemie interessiert, ein einfaches Lehrbuch. Außerdem besuchen sie klassische Konzerte für Kinder, Sprach- und Musikkurse. Der enorme Zeitaufwand sei sicherlich der größte Nachteil des Heimunterrichtes, meint der Vater. „Wir sind sehr organisiert, andere sind da lockerer. Was zählt, ist das Ergebnis.“ Die Eltern von Heimschülern, die er über die Jahre kennengelernt hat, verbinde, dass sie feste Überzeugungen haben, egal ob ökologischer, christlicher oder pädagogischer Art.

Klusoň und seine Frau sind Christen und wollen ihre Kinder nicht der schulischen Sexual­kunde aussetzen. Aber auch das soziale Umfeld, Mobbing und die Ineffizienz, die sie vielen Prager Schulen zuschreiben, seien Gründe für ihre Entscheidung gewesen. Am wichtigsten sei aber die Beziehung zu den Kindern, die durch gemeinsames Lernen vertieft worden sei.
Unterrichtende Eltern hoffen nun darauf, dass das zeitlich unbegrenzte Pilotprojekt für die Klassen sechs bis neun in ein ordentliches Gesetz überführt wird. Der Bildungsausschuss des Parlaments hat sich dafür bereits ausgesprochen, ebenso das Nationale Institut für Bildung. Das Schulministerium weist allerdings darauf hin, dass Heimunterricht keine übliche Alternative zum Schulbesuch sei. „Das tschechische Schulsystem ist in der Lage, Bildung auch für Schüler mit besonderen Problemen und Anforderungen zu bieten.“

Heimunterricht sei keine Lösung für alle, meint Klusoň. „Aber wir haben das Recht, für unsere Kinder so zu entscheiden.“ Auch Klempířová sieht individuelle Bildung nicht als den einzig richtigen Weg. Die traditionellen Schulen möchte sie nicht schlechtreden. „Es kommt auf die Lehrer an“, findet sie. Ihre beiden Zweitklässler, die das erste Schuljahr in einer regulären Klasse absolviert haben, würden die Schule aber nicht vermissen. „Und nach Noten haben sie noch nie gefragt.“