Kulturhauptstadt – und dann?

Kulturhauptstadt – und dann?

Jedes Jahr steckt die EU etliche Millionen in die Europäischen Kulturhauptstädte. 2015 trug Pilsen den Titel. Was davon bleibt, ist aber fraglich

13. 1. 2016 - Text: Vinzenz GreinerText: Vinzenz Greiner; Maciek Lulko/CC BY-NC 2.0

Breslau erwacht an diesem Freitag. Die Stadt zelebriert, dass sie nicht nur Hauptstadt Schlesiens ist, sondern auch die der europäischen Kultur – immerhin für ein Jahr. Am Finale der „Awakening“-Feier, die in Breslau – auf Polnisch Wrocław – das Jahr als Kulturhauptstadt Europas einläutet, werden Akrobaten auf fahrenden Metall-Gerüsten herumturnen, manche in goldenen Mänteln. Dazu: 200 Sänger, 50 Soldaten, polnischer Pathos. Den versprüht auch Bürgermeister Rafał Dutkiewicz, wenn er schwärmt, „Wrocław 2016“, wie das Kulturhauptstadt-Projekt offiziell heißt, sei „das wichtigste Ereignis in der Nachkriegs­geschichte der Stadt“.

Für Städte wie Breslau ist das EU-Projekt der Kulturhauptstädte in der Tat viel wert – Städte, die mitunter nicht viel von Kultur und Wirtschaft eines Landes abbekommen. Der Titel ist auch Chance für die Peripherie: Maribor in Slowenien, das finnische Turku, Guimarães in Portugal oder Graz waren schon Kulturhauptstädte. Die Europäische Union verleiht seit 1985 den Titel nach einer festen Länderliste, seit 2001 meist an zwei Städte gleichzeitig. Eine Jury aus Vertretern unterschiedlicher EU-Institutionen und der entsprechenden Länder entscheidet: Pilsen und Mons in Belgien wurden letztes Jahr belohnt. 2016 teilt sich Breslau den Titel mit San Sebastian im spanischen Baskenland.
Das Ziel des Programmes: Völkerverständigung und kulturelle Vielfalt der EU fördern. Und: Entwicklung anstoßen – im aktuellen EU-Beschluss, der die Regeln für die Kulturhauptstädte bis 2033 festlegt, steht das Wort „nachhaltig“ fünf, „langfristig“ vier Mal.

Für die Städte ist der Titel vor allem Standortmarketing. Wer ihn bekommt, kriegt nicht nur internationale Aufmerksamkeit, sondern auch Geld. Die Budgets der Kulturhauptstädte lagen in den letzten Jahren zwischen 20 und 80 Millionen Euro – Infrastruktur-Investitionen sind da noch nicht einmal eingerechnet. In den Topf von Breslau flossen fast 100 Millionen Euro – von EU, Staat, Region, Sponsoren. Das ostslowakische Košice, das 2013 Kulturhauptstadt war, bekam sogar noch etwas mehr – allein 58 Prozent davon stammten aus dem EU-Strukturfonds. Wer die Finanzierung will, muss durch ein hartes Auswahlverfahren.

Blick zurück
September 2010. Die Auswahlkommission, darunter der Generaldirektor des tschechischen Nationalmuseums, sitzt im Kulturministerium beisammen. Nachdem Hradec Králové vor einem Jahr rausfiel, stehen nur noch Ostrava und Pilsen auf der Shortlist. Monatelang haben die Städte Programme entworfen und Sponsoren gesucht. Jetzt entscheidet die Kommission, wer in fünf Jahren Kulturhauptstadt wird.

Ein klares Budget, Erfahrungen im Kultursektor, gute Verbindungen in Europa, das starke Engagement des Bürgermeisters Pavel Rödl – Pilsen bekommt den Zuschlag. Und eine Mahnung mit auf den Weg. Die Stadt in Westböhmen braucht mehr Geld und Kulturmanager, auf Kern-Projekte wie die Kulturfabrik Světovar – Aushängeschild des Projekts in Sachen Nachhaltigkeit – muss besser geachtet werden.

September 2015. Eine Stadtführerin vom Touristenamt schreitet voran durch die wuselige Altstadt, vorbei an Gauklern, die sich Bälle zuwerfen. Führt vorbei an den zeitunglesenden und in einer Hängematte liegenden Bronze-Statuen vom Hauptstadt-Projekt. „Früher kamen die Touristen nur kurz hierher: in die Brauerei, dann allenfalls noch auf den Marktplatz und dann weiter nach Prag“, sagt sie. Doch jetzt entdeckten die Besucher, was die Stadt alles zu bieten habe, und blieben länger. Der Slogan „Open up“ der als Entdecker-Anweisung an die Touristen aber auch als Imperativ an die Pilsener selbst gerichtet ist, scheint zu wirken. Für die Mittvierzigerin ist klar, dass es die Stadt mit dem Projekt „Plzeň 2015“ endlich geschafft hat, sich aus dem Schatten der Hauptstadt zu kämpfen.

Aufgebrachte Bürger
Laut „Plzeň 2015“ hatte die Stadt im vergangenen Jahr tatsächlich den stärksten Zuwachs an Touristen im tschechienweiten Vergleich. Jiří Sulženko ist zufrieden. „Wir haben alle Ziele erreicht, die wir uns für das Jahr gesteckt haben“, sagt der 35-jährige Programmdirektor von „Plzeň 2015“. Er sitzt vor einem Kaffee in einem gläsernen Info-Container, den man für das Projektjahr auf den Hauptplatz in Pilsen gestellt hat. Er spricht vom Erfolg der App „Verborgene Stadt“, über die Einheimische den Touristen ihr ganz persönliches Pilsen nahebringen. Und davon, dass die „kulturell eher konservativen“ Pilsener sich doch noch haben begeistern lassen vom Kulturhauptstadt-Projekt.

Dass das überhaupt in der Form stattfinden konnte, war lange nicht gesichert. Der Motor des Projekts, Pavel Rödl, ist schon seit 2011 nicht mehr Bürgermeister. Das Budget konnte kaum erhöht werden und ist laut EU mit 21 Millionen Euro eines der kleinsten in den letzten Jahren. In der Bevölkerung regte sich Unmut – zum Beispiel gegen das Neue Theater, einen 880-Millionen-Kronen-Bau aus rostrotem und grauem Beton. Sulženkos Vorgängerin warf den Bettel wegen Meinungsverschiedenheiten hin. Und dann war auch noch die Světovar-Brauerei, die zu einer Kulturfabrik hätte umfunktioniert werden sollen, mit krebserregenden Stoffen kontaminiert und unbenutzbar. Damit brach das langfristigste Projekt weg.

Ungewisse Zukunft
Šárka Krtková ist Programmleiterin des Ersatz-Projektes, das man innerhalb weniger Wochen aufbringen musste: das „Depo 2015“. Wo bis 2014 noch Busse zur Wartung einfuhren, steht jetzt ein Bartresen aus alten Büroschränken. An einem Tisch nebenan sitzen zwei junge Hipster mit Schnauzer auf schwarzen Eames-Stühlen und beugen sich über einen Laptop. Leise Elektro-Musik säuselt gegen Betonwände. Berlin ist hier gute 400 Kilometer, aber irgendwie auch nur einen Soja-Latte-Macchiato entfernt.

Krtková spricht vom 3-D-Drucker und den Schweißgeräten, die in der Nebenhalle zur Verfügung stehen. Von Grafikern und Designern, die hier in drei Monaten lernen, wie man einen Business-Plan aufstellt – und von den wackligen Beinen, auf denen all das steht. Bis 2017 ist die Arbeit des Depots gesichert. Dann muss frisches Geld her. Ob die Stadt mithilft, ist unsicher. „Die Chancen stehen 50 zu 50, dass wir weitermachen können“, sagt Krtková.

Ein Mann, der weiß, was im Stadtrat läuft, sagt, das Depot müsse dichtmachen. Pilsens Titel der Kulturhauptstadt sei kein Garant für die Zukunft. „Es wurde jetzt sehr viel Geld in die Kultur gesteckt. Es ist klar, dass Leute, die zuletzt zurückstecken mussten, Begehrlichkeiten hegen“, sagt Programmdirektor Sulženko. Ob sich der jetzige Bürgermeister Martin Zrzavecký denn nicht weiter für den Kultursektor starkmachen wird? Der sei „kein Mann von Kultur“, meint Sulženko.

Es scheint so, als würden die großen Pläne der Europäischen Union von der lokalen Realpolitik zerknüllt werden. Schließlich sollen die Kulturhauptstadt-Projekte doch vor allem nachhaltig sein. Dass auch Städte an dem Anspruch scheitern können, zeigt etwa ein Abschlussbericht zu Riga, der Kulturhauptstadt 2014.

Parallelen zu Košice
Einen solchen Bericht hat Mária Tajtáková geschrieben – über Košice, eine Stadt, die eine Ahnung gibt von Pilsens Zukunft. Denn die beiden Städte weisen viele Parallelen auf. Sie sind stark von Industrie geprägt, das Stadtbürgertum hat den Ruf, kulturell etwas bieder zu sein und beide stehen im Schatten der Hauptstadt.

Tajtákovás Fazit im Bericht von 2014: Das Kulturhauptstadt-Projekt wirkt nach. Es habe ermöglicht, dass sich eine Kreativindustrie entwickeln konnte und habe die Einstellungen der Menschen auf allen Ebenen verändert.

Kann man solche Aussagen überhaupt schon ein Jahr nach Ende des Projekts treffen? Tajtáková bejaht. Fakt ist: Auf dem Hauptplatz in Košice quietschten noch immer kitschige Pop-Melodien aus den Lautsprechern. Die Leute auf der Straße können kaum Veränderung erkennen. Die Besucherzahlen im Theater haben noch nicht das Niveau der Saison 2011/2012 erreicht – trotz neu gebauter Bühne fürs Hauptstadtprojekt. Fakt ist aber auch: Der städtische Kulturetat steigt für die nächsten Jahre.

Blick zu den Nachbarn
Die drei Kernprojekte von „Košice 2013“ laufen weiter. Im umgebauten Schwimmbad finden nach wie vor Konzerte statt. Im „Kunstpark“, der eher an einen modernen Uni-Campus als an die vormalige Kaserne erinnert, spricht man von Künstlern, die sich einmieten und davon, dass man hier den besten Ort für die Kreativindustrie in der Slowakei geschaffen hat. Auch die „Spots“ sind noch intakt – entkernte Wärmetauscher, die die Stadtbewohner frei nutzen können. In einem steht eine Halfpipe, in einem anderen machen Jugendliche gemeinsam mit Senioren ihr eigenes TV-Programm.

Šárka Krtková vom „Depo 2015“ in Pilsen schaut gespannt ins Nachbarland. „Mich würde wirklich interessieren, wie sich das alles in Košice künftig entwickelt.“ Auch in Breslau will man keine Fehler machen und hat sich in Pilsen und Košice schlaugemacht, wie eine Pressesprecherin mitteilt. Und wie gewährleistet Breslau Nachhaltigkeit? Dazu schweigt sie.

30 JAHRE KULTURHAUPTSTADT: Von Athen nach Breslau
Der Titel „Kulturhauptstadt Europas“ wird seit 1985 für jeweils ein Jahr von der Europäischen Union vergeben und seit 2004 an mindestens zwei Städte. Die Benennung soll dazu beitragen, „den Reichtum, die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes in Europa“ herauszustellen und „ein besseres Verständnis der Bürger Europas füreinander“ zu ermöglichen.

Um die bei der EU-Erweiterung hinzugekommenen neuen EU-Mitglieder möglichst schnell in das Projekt einzubinden, werden ab 2009 zwei Kulturhauptstädte (im Jahr 2010 waren es sogar drei) ernannt, davon eine aus den alten Mitgliedstaaten und eine aus den neuen. Mit Prag im Jahr 2000 und Pilsen im vergangenen Jahr trugen bisher zwei Städte in Tschechien den Titel. Erst 2028 wird sich die Europäische Kulturhauptstadt wieder in Tschechien befinden. Die erste „Kulturstadt Europas“ – so die offizielle Bezeichnung bis 1998 – war Athen. Der Westteil Berlins trug den Titel ein Jahr vor dem Mauerfall. Nach Weimar (1999) und Essen (2010) kann sich im Jahr 2025 wieder ein Ort in Deutschland als „Kulturhauptstadt Europas“ bezeichnen. Darum beworben haben sich bisher Dresden, Leipzig, Magdeburg und die Metropolregion Nürnberg. Österreich lud bereits zwei Mal ein: 2003 nach Graz und 2009 nach Linz.   (PZ)


Kulturhauptstädte 2016 bis 2019

2016 | Breslau (Polen), San Sebastian (Spanien)
2017 | Aarhus (Dänemark), Paphos (Zypern)
2018 | Leeuwarden (Niederlande), Valletta (Malta)
2019 | Matera (Italien), Plowdiw (Bulgarien)