Keine Scheu vor Tabus
Literatur

Keine Scheu vor Tabus

Sex, Schmerz, Schwalben: Radka Denemarkovás provokantes Buch „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ ist auf Deutsch erschienen

26. 5. 2019 - Text: Friedrich Goedeking, Titelbild: Radka Denemarková

Im deutschsprachigen Raum gehört Radka Denemarková neben Jaroslav Rudiš zu den bekanntesten tschechischen Nachwende-Autoren. Und das obwohl vor kurzem erst ihr zweiter Roman auf Deutsch erschienen ist. Über vier Jahre nach „Příspěvek k dějinám radosti“ liegt mit „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ endlich die Übersetzung vor. Wer nun ein Buch voller Glückseligkeit oder Frohsinn erwartet, der irrt sich. Der Titel ist sarkastisch gemeint: Die Freude bezieht sich auf die Freude am Sex, die viel zu wenige Frauen empfinden würden. Millionen Frauen wurden zu Opfern sexueller Übergriffe. Diesen Opfern männlicher Gewalt, die oft stumm bleiben, will Denemarková mit ihrem „Beitrag“ eine Stimme geben.

Zunächst scheint es sich um einen Kriminalroman zu handeln. Ein reicher Geschäftsmann in Prag wird auf dem Dachboden seiner Luxusvilla erhängt aufgefunden. Alles deutet auf einen Selbstmord hin. Doch dem ermittelnden Kommissar kommen Zweifel. Im Zuge der Ermittlungen stößt er auf ein Haus am Fuße des Laurenziberges (Petřín), das von drei alten Frauen bewohnt wird. Da sie gerade verreist sind, dringt der Ermittler in das Haus ein und stößt dabei im Keller auf ein großes Labyrinth – vollgestellt mit Regalen, die Aktenmaterial, Augenzeugenberichte und Filme über vergewaltigte Frauen auf der ganzen Welt enthalten.

„Wir sind hier in Prag, uns betrifft die Welt da draußen nicht.“

Der Ermittler reagiert erst einmal angewidert. Für ihn sind die drei alten Damen „gierige Greisinnen, mit einem Bein im Grabe.“ Er fragt sich: „Wo die wohl gerade sind, die Vetteln, warum gehen sie ihm so auf den Senkel, sollen sie doch im Ausland bleiben, wir sind hier in Prag, hier herrscht heilige Ruhe, uns betrifft die Welt draußen nicht, was schleppen die für Brut und Brand hier ein, Bazillen und Viren.“ Trotzdem zieht ihn der Keller immer wieder magisch an, er verbringt dort Stunden und sogar Tage.

In dieser Zeit liest der Kommissar Aufzeichnungen und Berichte über die japanischen Kriegsbordelle im Zweiten Weltkrieg, über zwangsprostituierte „Trostfrauen“ in den von Japan besetzten Gebieten. Er liest über junge Mädchen in einem Dorf in Mali, die gezwungen werden, Wasser zu holen, obwohl alle Dorfbewohner wissen: Unterwegs werden sie vergewaltigt. Er blättert eine Mappe über Geschehnisse in Indien durch, wo alle zwanzig Minuten eine Frau vergewaltigt wird.

Außer dem Kommissar weiß niemand, dass die drei älteren Damen Tausende von Dokumenten über die Gewalt an Frauen besitzen und in ihrem Keller versteckt halten. Sie gehen gesellschaftlich anerkannten Tätigkeiten nach: Die Amerikanerin Diana Adler veranstaltet Yogakurse, die Pragerin Birgit Stadtherrová Schreibkurse, die Deutsche Erika Eis dreht Dokumentarfilme.

Chinesisches Mädchen einer japanischen „Trosteinheit“ mit einem britischen Offizier in Rangun (August 1945)

Mit ihrer Materialsammlung haben sie begonnen, als sie Ingrid kennenlernten, die als 14-Jährige in Warschau mehrfach von deutschen Soldaten vergewaltigt worden war. Nach dem Krieg setzte sie sich dafür ein, dass Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen anerkannt werden und die betroffenen Frauen eine Entschädigung erhalten sollten. Für ihr Anliegen wollte Ingrid auch den als „Nazijäger“ bekannten Simon Wiesenthal gewinnen. Der aber hielt sie für „hysterisch und wahnsinnig“. Verzweifelt nahm sich Ingrid daraufhin das Leben.

Die Frauen setzen Ingrids Dokumentation fort. Sie versuchen auch jungen vergewaltigten Mädchen zu helfen, nachdem sie entdeckt haben, dass ein Restaurantbesitzer mit Drogen und Alkohol die Mädchen dazu bringt, sich für seine männlichen Gäste zu prostituieren. Die Frauen klagen ihn vor Gericht an, doch die betroffenen Mädchen verweigern die Aussage – aus Scham und aus Furcht, in den sozialen Medien bloßgestellt zu werden.

Die Hauptursache für männliche Gewalt gegenüber den Frauen sehen die drei Freundinnen in der Neigung von Männern, ihre Macht und Überlegenheit zu demonstrieren. Besonders in Kriegen zeigt sich, wie Frauen der männlichen Macht ausgeliefert sind. Ob im Zweiten Weltkrieg oder in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien: Mit Vergewaltigungen wollen die Soldaten ihre Gegner erniedrigen. Und bis heute gilt: Als Kriegshelden werden sie für ihre Taten nur selten zur Rechenschaft gezogen.

Denemarková erzählt in ihrem Roman aber auch eine Geschichte der gelungenen Liebe. Die Witwe des Geschäftsmannes und der Ermittler verlieben sich ineinander. „Sie lieben sich, und alles ist ganz simpel. Sie glaubt an ihn wie an das heilige Evangelium. Er glaubt an sie wie an das Wort Gottes.“ Der Mann lernt, dass Sex auch dann Freude ist, wenn er nicht zum männlichen Orgasmus führt. Schriftstellerin Birgit spricht offen darüber, dass Männer den weiblichen Körper kaum kennen: „Die Klitoris ist die Königin der Wonne und Freude. Die Klit ist mein Penis.“

Der Ermittler erlebt, dass die gemeinsame Verbindung mehr zählt als ein Orgasmus. „Einander in die Augen zu sehen und den anderen zu liebkosen.“ Die Gleichberechtigung muss sich auch in der körperlichen Liebe zeigen. Die Witwe konstatiert: „Dann ist das Zeitalter der Dominanz und Unterordnung vorbei.“

Als es dem Ermittler schließlich gelingt, direkten Kontakt mit den drei Frauen aufzunehmen, äußert er ihnen gegenüber den Verdacht, dass sie den Geschäftsmann wegen seiner ständigen sexuellen Belästigungen seiner Sekretärinnen ermordet haben. Die Frauen widersprechen ihm nicht. Den Ermittler stürzt das in einen fast unlösbaren Konflikt. Von Berufs wegen müsste er die Frauen anzeigen. Auf der anderen Seite würde er damit die Ignoranz vieler Gesetzeshüter gegenüber den Leiden, die Frauen angetan werden, bestätigen …

In Denemarkovás Roman geben Schwalben Hoffnung. | © APZ

Manche sehen in Denemarková eine Vorläuferin der #MeToo-Bewegung. Doch im Unterschied dazu gehen die drei Frauen nicht an die Öffentlichkeit. Warum halten die Frauen ihr Archiv geheim?

Diana ist überzeugt: „Ein Körper vergisst nichts. Keine Folter, keinen Missbrauch, keine Brutalität. Den traumatisierten Frauen helfen weder Psychotherapie noch Psychoanalyse, sondern nur Yogakurse. Es hilft einzig die Arbeit mit dem Körper; Gesamtentspannung; die ausufernde und bedingungslose Freude am eigenen Körper.“ Außerdem ist sie sich sicher, dass wir von den Schwalben lernen können, dass Sex Freude ist. Für sie sind die Schwalben ein Symbol der Hoffnung. Sie kennen keine Grenzen, keine Religion, keinen Rassismus und keinen Geschlechterkampf. Ein Schwalbenpaar bleibt sich ein Leben lang treu. Nur gemeinsam als Paar können sie Nester bauen und ihren Nachwuchs versorgen.

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Kommentare

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  1. Ich schätze Radka Denemarkowa sehr, daß jetzt in ihrem Roman „Radost“ vorkommt, liegt vielleicht auch an ihrem Namen Radka, der ja Ähnliches bedeutet.
    Also Freude darüber, daß all diese Themen angesprochen werden, und bei Vergewaltigung einer Frau spielt die Herkunft keine Rolle, alle diesbezüglichen Verbrechen, die im Zusammenhang mit Kriegen vorkommen, müßten als Kriegsverbrechen geahndet werden und allen Tötungen aus diesem Grund müßten auf den Kriegergräbern der Welt gedacht werden analog den männlichen Opfern des Krieges, vielleicht würde dann die Menschheit begreifen, was hier geschieht, immer noch, und unentrinnbar mit dem Krieg zu tun hat, täglich in allen kriegerischen Auseinandersetzungen der Welt.
    Gruß
    Jenny Schon
    Berlin





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