Jan Hus – für immer ein Ketzer?

Jan Hus – für immer ein Ketzer?

Seit 600 Jahren wird das Urteil des Konstanzer Konzils kontrovers diskutiert

12. 2. 2015 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Bild: „Meister Jan Hus auf dem Konzil von Konstanz“ von Václav Brožík (1883)/APZ

„Benedikt XVI., rehabilitiere Jan Hus!“ Mit dieser Forderung konfrontierten Demonstranten den Papst bei seinem Besuch in Prag 2004, als er die Kirche Maria vom Siege (Kostel Panny Marie Vítězné) verließ. Die Wallfahrtskirche erinnert an den Sieg der katholischen Liga über die protestantischen böhmischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg im Jahr 1620. Dem Anliegen kam der Papst nicht nach. Und auch im von der Stadt Konstanz proklamierten „Jahr der Gerechtigkeit“ ist nicht zu erwarten, dass die katholische Kirche sich zu dem Schritt entschließen könnte, das Konstanzer Urteil zu revidieren. Seit Jan Hus vor 600 Jahren in Konstanz den Feuertod erlitt, wird über die Frage, ob er nun wirklich ein Ketzer war, zum Teil erbittert gestritten.

Der Protest gegen seine Hinrichtung als Ketzer löste in seinem Heimatland damals eine Welle der Empörung aus. 450 Adelige aus Böhmen und Mähren klagten das Konzil an, einen Unschuldigen verurteilt zu haben. Von der großen Mehrheit der Bevölkerung wurde Jan Hus in den folgenden zwei Jahrhunderten als Märtyrer, nahezu als Heiliger verehrt. Nach der Schlacht am Weißen Berg setzte eine Zwangsrekatholisierung in Böhmen und Mähren ein. Anhänger von Hus wurden verfolgt oder in die Emigration getrieben, hussitische Schriften verbrannt. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts konnte die Frage einer Revision des Hus-Prozesses wieder öffentlich diskutiert werden.

Eröffnet wurde diese Diskussion im Jahr 1867 mit einem Artikel in der Zeitschrift „Pokrok“ („Fortschritt“) unter dem Titel „Zur Revision des Prozesses gegen Hus“. Josef Kalousek legte in acht Punkten dar, warum die Konzilsväter den Theologen zu Unrecht verurteilten. Von katholischer Seite wurde geltend gemacht, dass Hus nach dem zu seiner Zeit geltenden Recht verurteilt worden sei.

Die sich über Jahrzehnte hinziehende Debatte gipfelte in der These der Hus-Anhänger, das Konstanzer Konzil habe einen Justizmord begangen, wohingegen die katholische Seite Hus einen hartnäckigen und gefährlichen Ketzer nannte, der die damals bestehende weltliche und kirchliche Ordnung aus den Angeln heben wollte.

Von Anfang an war die tschechische Kontroverse im 19. Jahrhundert um das Konstanzer Urteil kein rein theologischer Disput, sondern vielmehr ein Politikum ersten Ranges – sie war fester Bestandteil der Ideologie der tschechischen Nationalbewegung. Die Liberalen, die sogenannten Jungtschechen, feierten Hus als Vorkämpfer der Gewissens-und Religionsfreiheit und vereinnahmten ihn für ihre politischen Ziele, vor allem für ihren Kampf gegen die habsburgische Fremdherrschaft und die religiöse Bevormundung durch die josephinische Staatskirche.

Unerfüllte Hoffnung
Die Hus-Verehrung der nationalen Bewegung artikulierte sich auch in öffentlichen Demonstrationen. 1868 brachen mehrere Hundert Tschechen zu einer Wallfahrt von Prag nach Konstanz auf, zum Gedenken an den in Konstanz hingerichteten Jan Hus. Ein Jahr später wurde der 500. Geburtstag von Jan Hus mit großen Massenkundgebungen in Prag gefeiert. Den Höhepunkt der Verehrung markierte Ende des 19. Jahrhunderts der Beschluss der Stadt Prag, auf dem Altstädter Ring ein Hus-Denkmal zu errichten.

Was die Rehabilitierung des vermeintlichen Ketzers betraf, so sprachen sich paradoxerweise auch die Jungtschechen dagegen aus. Sie erklärten, „der große von der Bischofs- und Prälatenversammlung verurteilte Reformator ist für die Geschichte der menschlichen Aufklärung viel wichtiger als ein von denselben Hoheiten begnadigter Priester.“

Die katholische Kirche verbot ihren Mitgliedern die Teilnahme an der Wallfahrt nach Konstanz und den Hus-Kundgebungen. Der Prager Erzbischof suchte sogar zusammen mit einer Delegation den Bürgermeister auf, um gegen das geplante Hus-Denkmal zu protestieren. In der katholischen Kirche führte die ablehnende Haltung der Kirchenleitung gegenüber einem hussitisch geprägten Nationalismus zu einer Entfremdung vieler Tschechen gegenüber der katholischen Kirche. Es gab aber innerhalb der katholischen Geistlichkeit immerhin eine Opposition in der reformorientierten Priesterbewegung „Jednota“. Ihr Sprecher Bohumil Zahradník-Brodský bekannte sich uneingeschränkt zu Jan Hus. In dessen Rehabilitierung durch den Papst sah er die große Chance einer Wiederannäherung des tschechischen Volkes an die römische Kirche. Es sei ein Faktum, dass nichts der katholischen Kirche in Böhmen und Mähren so geschadet habe wie die Verurteilung des Jan Hus.

Nachdem Zahradník-Brodský mit seinem Anliegen jedoch auf das Unverständnis seiner Kirche stieß, begründete er mit anderen Katholiken die Tschechoslowakische Hussitische Kirche. Die Hoffnung der protestantischen Gemeinschaften, dass die mit der Nationalbewegung verbundene Hus-Verehrung dazu führen könnte, die Mehrheit der Bevölkerung für sich zurückzugewinnen, erfüllte sich nicht. Allerdings traten nach dem Ende der katholisch-habsburgischen Monarchie eine Million Katholiken aus der Kirche aus. Nur eine kleine Zahl von ihnen schloss sich der neuen hussitischen Gemeinschaft an, zu der sich heute zusammen mit der Hussitischen Brüderkirche etwa ein Prozent der Tschechen bekennt.

Die katholische Kirche in Tschechien sah sich in ihrer Ansicht, wonach die Mehrheit der politischen Parteien mit ihrem Bekenntnis zu Jan Hus eine antikatholische Stimmungsmache betreibe, bestätigt, als das Parlament 1925 den 6. Juli – den Tag, an dem Hus 1415 in Konstanz hingerichtet wurde – zum nationalen Feiertag erklärte. Als Staatspräsident Tomáš G. Masaryk und Ministerpräsident Antonín Švehla an der ersten staatlichen Hus-Gedenkfeier teilnahmen, verließ der Päpstliche Nuntius die Stadt Prag, der Vatikan brach für drei Jahre die diplomatischen Beziehungen zur Tschechoslowakei ab.

„Denkwürdige Gestalt“
Am 21. Juli 1925 veröffentlichte Rudolf Kepák ein fiktives Gespräch zwischen der Heiligen Johanna und dem damaligen tschechischen Erzbischof František Kordač. Johanna, die wie Hus als Ketzerin verbrannt, dann aber von der Kirche rehabilitiert und heiliggesprochen worden war, fragt den Erzbischof: „Seht Ihr nicht, dass Ihr mit Eurer Position Euer ganzes Volk verurteilt? Warum könnt Ihr nicht jetzt, wo Ihr die staatliche Unabhängigkeit erreicht habt, Hus und damit dem tschechischen Volk die Hand zur Versöhnung reichen?“ Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) begann die Leitung der katholischen Kirche in Tschechien ihre Einstellung zu Jan Hus zu ändern. Josef Kardinal Beran bezeichnete den Prozess von Konstanz als wenig förderlich für das Ansehen der katholischen Kirche in den tschechischen Ländern und sprach sich dafür aus, dass die Kirche ein klares Votum für die Religions- und Gewissensfreiheit abgäbe.

1986 verfasste der polnische Theologieprofessor in Lublin, Stefan Swieżawski, den Artikel „Jan Hus – ein Häretiker oder ein Vorläufer des 2. Vatikanischen Konzils?“ Darin sprach er Hus von jeglichen Irrtümern frei und forderte den Papst auf, eine Revision des Prozesses anzuordnen. Zehn Jahre später äußerte auch der Prager Erzbischof Miloslav Kardinal Vlk, das Urteil gegen Hus müsse widerrufen werden. Papst Johannes Paul II. griff diesen Impuls auf, nannte Jan Hus einen „Reformator“ und berief für 1999 in Rom eine internationale Hus-Konferenz ein, an der etwa hundert Wissenschaftler aus sieben verschiedenen Ländern teilnahmen. In Anwesenheit des tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel erklärte Johannes Paul II., „Hus ist aus vielerlei Gründen eine denkwürdige Gestalt.

Es ist aber vor allem sein sittlicher Mut im Angesicht der Widrigkeiten und des Todes, der ihn zu einer herausragenden Gestalt für das böhmische Volk machte … Heute, an der Schwelle zum Großen Jubeljahr, fühle ich mich verpflichtet, mein tiefes Bedauern auszusprechen für den grausamen Tod von Jan Hus und für die daraus folgende Wunde, Quelle von Konflikten und Spaltungen, die dadurch in den Geist und die Herzen des böhmischen Volkes gerissen wurden.“

„Ideologischer Prophet“
Von dieser Erklärung war es nur noch ein kleiner Schritt zur tatsächlichen Rehabilitierung des Jan Hus durch die katholische Kirche. Doch dieser Schritt blieb aus. Offensichtlich ist der Vatikan von der positiven Einstellung von Johannes Paul II. gegenüber Hus unter dem Pontifikat Benedikts XVI. wieder abgerückt. Diese Annahme bestätigt der katholische Theologe Walter Brandmüller, bis 2009 Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft, mit einer Aussage im vergangenen Jahr: „Das Verfahren [gegen Hus] war gerecht und fair.“ Die Konzilsväter hätten dem Angeklagten goldene Brücken gebaut, Hus sei sich bewusst gewesen, dass er ein Häretiker sei. Laut Brandmüller habe er aber „den öffentlichen Widerruf nicht leisten [wollen], weil er sich zu sehr der böhmisch nationalen, um nicht zu sagen nationalistischen Bewegung verpflichtet fühlte, die in ihm ihren ideologischen Propheten sah.“ Damit sei Hus zu einem „heroischen Opfer dieser politischen Situation geworden.“

Dass in Konstanz ein Theologe verurteilt wurde, der aus tiefer religiöser Überzeugung für eine grundlegende Reform der Kirche gekämpft hatte, will der Vertreter des Vatikans nicht gelten lassen. Bereits bei der Würdigung von Jan Hus durch Papst Johannes Paul II. fällt auf, dass vor allem die Persönlichkeit und die Charakterstärke von Hus hervorgehoben wird, weniger aber sein Reformprogramm, das noch heute zu einem großen Teil mit der geltenden kirchlichen Lehre nur schwer vereinbar ist. Dazu gehört zum Beispiel Hus’ Auffassung, dass die Bibel – und nicht das kanonische Kirchenrecht – alleinige Richtschnur für die Christen und die Kirche ist.

Immer noch gilt der Reformator als Ketzer. Und immer noch warten Menschen in den verschiedenen Konfessionen darauf, dass sich nicht nur in der Beurteilung seiner Person, sondern auch gegenüber seiner Kirchenkritik ein Umdenken vollzieht, im Sinne der Prophezeiung des hussitischen Wahlspruchs „Die Wahrheit Gottes wird siegen“.