Indisch zwischen den Hirschen

Indisch zwischen den Hirschen

Alice und Anbu Mahesh wollen einem ehemaligen deutschen Hotel im tschechischen Teil des Erzgebirges neues Leben einhauchen. Seit September bewohnen und renovieren sie das Haus

29. 4. 2015 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton

Man kann Alice und Anbu Mahesh für verrückt halten. Weder fließend Wasser noch Heizung und Strom hatten sie, als sie im September in einen Ort zogen, den es gar nicht mehr gibt; in ein Haus, das fast 20 Jahre lang verfiel. Der Ort liegt nur zwei Kilometer von der Grenze entfernt, auf der tschechischen Seite des Erzgebirges. Bis 1945 hieß er Hirschenstand und zählte etwa 150 Häuser, eine Kirche und mehr als 800 Einwohner. Heute besteht Jelení aus fünf Häusern. Der Rest ist verschwunden. Im Winter waren Anbu und Alice mit ihrer zweijährigen Tochter Žofka und der im Februar geborenen Amálka die einzigen, die hier lebten. 860 Meter über dem Meer, bis zu 22 Grad unter Null, für Autofahrer meist von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Festnetztelefon, kein Handyempfang.

„Die Leute haben uns gesagt, wir werden das nicht aushalten“, erzählt Anbu grinsend. „Aber wir haben es geschafft.“ Was für andere nach einem kargen Leben voller Entbehrung klingt, beschreiben der Inder und seine Prager Frau als Oase: „Jelení ist voller Energie. Trotz der traurigen Geschichte kann man hier eine positive Kraft spüren.“ Der Ort verzauberte sie bereits vor zwei Jahren, als sie das erste Mal zufällig vorbeikamen. Sie wollten das große Haus mit der Backsteinfassade kaufen, das in Hirschenstand einst als Hotel gedient hatte und vor allem Besucher aus dem Deutschen Reich ins Erzgebirge lockte. Baujahr: 1896, Zustand: renovierungsbedürftig.

Die Chancen standen nicht gut für das tschechisch-indische Paar. Investoren hatten große Flächen in Jelení und mit ihnen auch das ehemalige Hotel erworben. Zuerst wollten sie ein Windkraftwerk errichten. Das Vorhaben scheiterte aber ebenso an den Regeln des Naturschutzgebiets wie der spätere Plan, einen Golfplatz anzulegen. Plötzlich stand das Gebäude zum Verkauf. Alices Eltern wurden darauf aufmerksam, zögerten aber lange, ihre Tochter zu informieren. „Sie waren wirklich dagegen, dass wir das Haus kaufen. Sie hatten Angst vor der vielen Arbeit, die auf uns zukommen würde“, erinnert sich der Schwiegersohn. „Dabei arbeite ich wirklich gern mit den Händen“, sagt der 37-Jährige.

Baden im Bach
Gelernter Handwerker ist Anbu nicht. Er lebte lange in Chennai, einer der größten Städte Indiens. Bevor er Alice dort 2012 traf und bald darauf heiratete, war er in der Filmindustrie tätig, unter anderem als Kameramann, Schauspieler und Regisseur. Sein jüngstes Projekt, ein Film darüber, wie Buddha heute leben würde, liegt derzeit auf Eis. Dem zweifachen Vater macht es mehr Spaß, langsam das Haus herzurichten. Die ersten sichtbaren Erfolge zeigt er stolz, darunter ein Badezimmer mit lindgrünen Fliesen, Toilette und Eckbadewanne. „Am Anfang haben wir uns im Bach gewaschen, der direkt vor unserer Haustür fließt.“ Dann fanden sie im Garten einen alten Brunnen und mittlerweile fließt in den Räumen auch wieder Wasser. Allerdings muss es noch abgekocht werden, bis die alten Pumpanlagen gesäubert sind. Auch die Heizung funktioniert inzwischen. Die alten Kessel und Rohre haben Anbu und Alice als Alteisen verkauft – sechs Tonnen insgesamt.

Als nächstes wollen die beiden die Zimmer nach und nach erneuern, wie bisher in Eigenregie und mit Hilfe von Freiwilligen aus aller Welt, die sie übers Internet suchen. Bisher kamen unter anderem Menschen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Australien, um mit anzupacken. Irgendwann will die Familie im ersten Stock des Hauptgebäudes wohnen – momentan lebt sie in zwei Räumen im Anbau – und im Erdgeschoss ein Restaurant betreiben. Außerdem sollen Gästezimmer entstehen sowie Räume für Joga und Meditation. „Annadánam“ nennen Alice und Anbu das Projekt, „Dánam“ ist ein indisches Wort für Geschenk. Wer als Wanderer, Radfahrer oder Langläufer vorbeikommt, dem wollen sie indische Spezialitäten anbieten. Die Gäste können dafür bezahlen so viel sie wollen, müssen aber nicht. „Wir wollen zeigen, dass es auch anders geht, nicht immer nur um Geld und Profit“, sagt Alice, die Indologie studiert und als Bauchtanzlehrerin gearbeitet hat.

Das Startkapital für ihr Projekt wollen sich die beiden nicht von einer Bank leihen, sie wollen auch keine Förderung von der EU oder anderen Organisationen beantragen. „Wir wollen ganz langsam wachsen“, so die 29-Jährige. Deswegen haben sie sich auf dem Crowdfunding-Portal „Hithit“ angemeldet. Wer sie unterstützen möchte, kann eine Summe zwischen 200 und 100.000 Kronen (umgerechnet etwa sieben bis 3.600 Euro) überweisen. Bis Mitte Mai wollen sie auf diese Weise 300.000 Kronen sammeln, am vergangenen Wochenende waren sie bei gut 30 Prozent. Als Dankeschön versprechen Alice und Anbu für größere Beträge eine kostenlose Übernachtung mit indischem Essen, für kleinere Spenden eine der Postkarten, die sie beim Ausräumen im ehemaligen Hotel gefunden haben. Sie stammen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Haus „Zwischen den Hirschen“ („Mezi Jeleny“) vom Tschechoslowakischen Außenministerium als Feriendomizil für Mitarbeiter genutzt wurde. Bis 1997 war es in Betrieb – als die neuen Besitzer im September einzogen, hingen noch die Kalender aus diesem Jahr an der Wand.

Geteilte Erinnerungen
Seitdem stoßen sie immer wieder auf Spuren aus der Geschichte des Hotels und des verschwundenen Dorfes. Plötzlich melden sich Menschen, die ihre Erinnerungen teilen möchten. Gerade eben habe sie eine E-Mail aus der Slowakei erhalten, berichtet Alice. Ein Mann, dessen Großonkel Anfang der sechziger Jahre einige Monate als Soldat im Ort verbracht hat. Es war die Zeit, als die Reste der Häuser der vertriebenen Sudetendeutschen dem Erdboden gleichgemacht wurden, damit Jelení eine hübsche Kulisse für die Internationale Friedensfahrt – dem bedeutendsten Radrennen im ehemaligen Ostblock – abgab. Auch die Pfarrkirche Sankt Antonius von Padua, die zuletzt noch als Kuhstall gedient hatte, musste weichen, und mit ihr der Friedhof. Heute erinnert ein Denkmal an die Kirche: Dort wo einst hunderte Menschen bestattet wurden, ist ein einziges Grab zu sehen, ein kleiner Grabstein ohne Namen, mitten im Nichts.

Dieser Teil der Geschichte macht Anbu ein wenig traurig. Er glaubt, dass die Deutschen, die hier gelebt haben, sehr glücklich gewesen sein müssen. In alten Aufzeichnungen habe er von jemandem gelesen, der „sein Leben nicht gegen das eines Königs eintauschen“ wollte. Sonst wissen die neuen Besitzer bisher wenig über die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. „Wir würden gerne die Nachfahren der Menschen kennenlernen, die das Haus vor über 100 Jahren erbaut haben“, sagt Alice. Noch sind sie auf der Suche nach solchen Kontakten und freuen sich über jeden, der ihnen etwas über den Ort erzählt.

Umgekehrt freuen sich auch die Menschen in der Umgebung, dass endlich wieder Leben einkehren soll zwischen den Hirschen. Als Anbu durch das Haus führt, steht auf einmal ein älterer Mann aus Nejdek, der nächsten größeren Stadt mit etwa 8.000 Einwohnern, vor der Tür. Er ist mit dem Fahrrad gekommen, trägt einen Helm und hat wenig Zähne. Im Internet habe er gelesen, dass hier irgendetwas los sei, sagt er zu Anbu. Als er merkt, dass der Inder mit Tschechisch noch Schwierigkeiten hat, wechselt er in gebrochenes Englisch. Er wünscht viel Glück und verspricht, er werde bald mal wieder vorbeikommen.

„In Prag hatten wir Nachbarn, aber wir haben nicht mit ihnen gesprochen“, meint Anbu, „hier haben wir kaum Nachbarn, aber wir sprechen mit allen, die vorbeikommen.“ Einsam fühle sich die Familie daher nicht. Einmal pro Woche fahren sie nach Nejdek zum Einkaufen, Žofka besucht dort eine Gruppe, in der sie mit anderen Kindern spielen kann. Im Winter kommen außerdem viele Langläufer vorbei, im Sommer Wanderer und Radfahrer. Und es gebe sogar einen Fernseher, sagt Anbu und deutet auf das Fenster: „Wenn am Wochenende die Besitzer des Hauses dort drüben kommen, bewegt sich da draußen etwas. Und abends beobachten wir oft Füchse, Rehe und Hasen.“ Nur auf einen echten Hirsch hat er bisher vergeblich gewartet.