Ticketlos durch die Nacht

Ticketlos durch die Nacht

Schwarzfahren verstehen manche als Hobby mit Adrenalinkick, andere als Kavaliersdelikt. Ein Erfahrungsbericht

13. 1. 2016 - Text: Klaus Hanisch, Foto: Arne Witte

Ausdrücklich sei festgestellt: Dies ist keine Aufforderung oder gar Anleitung zu einer Straftat! Schwarzfahren ist, ohne Frage, asozial und schadet dem Gemeinwesen. Unzweifelhaft ist jedoch ebenfalls, dass es Schwarzfahrer in allen Ländern und allen öffentlichen Verkehrsmitteln gibt. Auch in Prag.

Dabei ist es wie mit der Steuer: Im Grunde genommen sind die meisten Bürger ehrliche Menschen und trotzdem kann es passieren, dass der eine oder andere mal eine Einnahme nicht deklariert. Was für den öffentlichen Nahverkehr in Prag bedeutet: In der Regel lösen Passagiere immer ihre Fahrscheine oder haben ihre Zeitkarte erworben – und trotzdem kann einer von ihnen mal eine Straßen- oder U-Bahn ohne gültiges Ticket nutzen. Beziehungsweise eine Eisenbahn im tschechischen Fernverkehr.

Es sei denn, man zahlt aus Prinzip niemals. Wie jener deutsche Schauspieler, der sich selbst einen „Schwarzfahr-Profi“ nennt. Er schrieb darüber vor ein paar Jahren ein Buch mit dem Titel „Im Sarg nach Prag“. Dass ausgerechnet die tschechische Me-tropole auf das Cover kam, ist bezeichnend. Über Jahre fuhr der Künstler Mathias Kopetzki mehrmals pro Woche schwarz durch Deutschland und die Nachbarstaaten. Als Grund nannte er Geldknappheit. Und ebenso die Neugier auf skurrile, tragische oder komische Ereignisse.

Viel erleben kann man auch in Prag. So kürzlich in der Nachtlinie 59, morgens um halb drei. Ab Žižkov waren zwei Kontrolleure und acht Fahrgäste an Bord. Einige „ohne“. Möglicherweise folgten sie dem Ratschlag, dass bei Fahrten nach 23 Uhr das Risiko deutlich sinke, kontrolliert zu werden.

Auch ich hatte kein Ticket gelöst. Mehr aus Müdigkeit denn aus Absicht, weil ich einen ausgedehnten Trip mit Freunden durch Lokale des Szene-Viertels hinter mir hatte. Doch in meiner Jacke fand ich noch die gelöste Fahrkarte von der Hinfahrt. Sowie drei ungebrauchte Tickets. Deshalb unterstellte mir der Kontrolleur guten Willen.

Vielleicht erregte ich auch sein Mitleid, weil ich so hilflos wirkte. Nicht zuletzt aus Schreck darüber, noch mitten in tiefer Nacht auf einen wie ihn zu treffen. Daher steckte er für mich sogar eines der Tickets eigenhändig in den Automaten, wenngleich mit mahnenden Worten. Gegenüber dem Fahrgast auf dem Sitz vor mir war der städtische Bedienstete weniger nachsichtig. Ihn bat er zur Kasse, obwohl der Tscheche lautstark protestierte und fortwährend mit dem Finger auf mich deutete.

Aus allen Schichten
Schwarzfahrer gibt es vermutlich seit dem Tag, an dem es öffentliche Verkehrsmittel gibt. Und sie kommen laut Kopetzki aus allen Gesellschaftsschichten, sind ebenso Ärzte wie Hausfrauen, Anwälte oder Handwerker. Nicht dazu gehörte allerdings jene deutsche Richterin, mit der ich im April 1993 kurz vor Mitternacht nach einem funktionierenden Fahrkartenautomaten suchte. Was in jenen Tagen selbst im Stadtzentrum nicht immer selbstverständlich war.

Wegen der vorgerückten Stunde schlug ich vor, die U-Bahn mal ohne Fahrkarte zu nehmen. „Ausnahmsweise“, und weil die letzte Fahrt unmittelbar bevorstand. Außerdem kostete eine Fahrkarte damals (für einen Westdeutschen) umgerechnet nur läppische 20 Pfennige. Deshalb werde niemand einen Strick daraus drehen, wenn man sich einmal eine „Freifahrt“ erlaube, befand ich. Doch die Juristin winkte energisch ab. „Ich bin Beamtin!“, erklärte sie mit Nachdruck, „wenn ich bei einer Schwarzfahrt erwischt werde, ist meine Karriere beendet.“ Also suchten wir weiter, bis wir unsere Tickets endlich lösen konnten. Mit einem Sprint erreichten wir gerade noch die letzte Metro.

Geiz oder materielle Not können Gründe dafür sei, keine Fahrkarte zu lösen. Auch Vergesslichkeit, weil Gedanken an berufliche oder private Dinge beim Einstieg ablenken. Wer nur zwei Stationen bis zu seinem Ziel braucht, stellt sich zuweilen die Frage, ob er dafür wirklich ein Ticket „verschwenden“ soll.

Kopetzki entwertet auch deshalb keine Fahrscheine, weil für ihn das Katz-und Maus-Spiel mit den Kontrollorganen einen besonderen Reiz hat. Einmal stieg ich am Švanda-Theater an der vordersten Tür zu und ein Kontrolleur in der Mitte. Da er unschwer als solcher zu erkennen war, steuerte ich ohne Umschweife den Fahrscheinentwerter an. Doch der „Revizor“ kam mir mit einem Hechtsprung zuvor. Dies empfand ich als höchst unfair und fing deshalb eine Diskussion mit ihm an.

Genervte Kontrolleure
Kopetzki hält für wichtig, dass man die Landessprache des Personals kennt. Das ist falsch. Ich beschimpfte den Kontrolleur auf Spanisch, da er möglicherweise Deutsch oder Englisch beherrschte, und fragte ihn, was das für ein Blödsinn sei, dass er mich direkt vor einem Automaten als Schwarzfahrer überführen wolle.

Durchaus kein zwingendes Argument. Doch trug ich es mit wachsender Lautstärke vor, weshalb uns allmählich alle Fahrgäste beobachteten. Dies wurde dem älteren Mann von den Verkehrsbetrieben peinlich. Dabei bestätigte sich eine andere Einsicht von Kopetzki. Ein langjähriger Bediensteter habe sich „in seiner Karriere zu häufig mit diesem Gesocks herumschlagen müssen, als dass er dieses Problem noch ernst nehmen könnte.“ Tatsächlich winkte der Mann genervt ab und verließ an der nächsten Station die Straßenbahn.

Nicht immer müssen Spanisch-Kenntnisse jedoch von Vorteil sein. Einmal waren an einem Sonntag gegen 23 Uhr vier Fahrgäste in einer Tram, darunter ein Paar aus Valencia. Vor der Station Újezd gerieten die jungen Spanier in die Klemme. Sie waren erst wenige Stunden vorher in die Hauptstadt gereist und hatten noch keine Tickets gekauft.

Mitarbeiter der Prager Verkehrsbetriebe kreisten die Spanier daraufhin regelrecht ein und leiteten sie anschließend wie Schwerverbrecher ins Freie, obwohl sie keinerlei Anstalten zur Flucht trafen. Dabei zeigte sich, dass gleich vier Kontrolleure mitfuhren, wenngleich an einem späten Sonntagabend kaum noch Touristen in Prag und nur noch wenige Prager unterwegs sind.

Die Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe konnten sich dabei auf ein Urteil des Obersten Verwaltungsgerichtes stützen. Demnach dürfen Kontrolleure Schwarzfahrer festhalten, wenn sie sich nicht ausweisen können. Vielleicht hatte in diesem Fall eher Kopetzki recht: Je jünger Kontrolleure sind, desto ehrgeiziger sind sie – und umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie „ebenfalls Schwarzfahrererfahrung“ besitzen, entweder aus eigenen Erlebnissen oder durch Erzählungen in ihrem Freundeskreis …

Mit Anzug und Schlips
Um nicht schon bei Fahrtantritt als potenzieller Schwarzfahrer aufzufallen, achtet Kopetzki genau auf seine Bekleidung. Bunt und extravagant errege zu viel Aufmerksamkeit. „Auch vermeide ich es, mich schwarz zu kleiden“, bemerkt er, „das verursacht, bewusst oder unbewusst, beim Zugbegleiter ungewollte Assoziationen.“ Anzug und Schlips seien dagegen von Vorteil, weil sie einen als Respektsperson ausweisen – und denen traue man in der Regel keine Schwarzfahrt zu. Meist trage er jedoch möglichst unauffällige, sehr bürgerliche Klamotten. Dadurch könne er mit bereits Kontrollierten verwechselt werden.

Genauso handelt aber auch die „Gegenseite“ in Prag. Früher waren Kontrolleure leicht an den gedeckten Farben ihrer Jacken und Blousons auszumachen: meistens grau-braun-grün. Oder dunkelblau. Mittlerweile geben sie sich besonders unauffällig.

So stellte sich im vergangenen Sommer ein jugendlicher Typ in Jeans und legerem Outfit neben mich ganz hinten in eine Straßenbahn. Allein sein prüfender Blick unterschied ihn von einem normalen Studenten. Wahrscheinlich erinnerte ich ihn mit meinen vielen Plastiktüten an einen Obdachlosen, deshalb hielt er nach der Station „Nákladové nádraží Žižkov“ zuerst mir seine Kontrollmarke vor. Wie immer war der Kontrolleur nicht allein. Sein Kollege war ebenfalls sehr jung und trug kurze Hosen. Eine nahezu perfekte Tarnung. Beide stiegen wie üblich zwei Stationen weiter aus. Sichtlich enttäuscht, weil alle Fahrgäste Tickets hatten.

Nicht auszudenken sei, dass sich eine Gruppe von zehn oder mehr Schwarzfahrern permanent darüber verständigt, wo sich gerade der „Feind“ befinde. „Es ist ja schon mit zwei Personen kompliziert“, so Mathias Kopetzki. Viele Personen erhöhen die Gefahr, ertappt zu werden. Dies brachte der Deutsche 2012 zu Papier. Schon ein Jahr später wurde das „Problem“ wissenschaftlich gelöst. Und zwar in Tschechien. Seit 2013 können sich Schwarzfahrer mit dem Programm „Fare2Bandit“ auf dem Handy in elf tschechischen Städten vor Kon­trollen warnen. Nutzer informierten sich gegenseitig darüber, wo sie Kontrolleure gesehen haben, wie viele es sind und welche Kleidung sie tragen.

Die App berechnet auch die zurückgelegte Strecke und das ersparte Geld, wenn Schwarzfahrer angeben, wie oft sie ohne zu bezahlen gefahren sind – mögliche Bußgelder werden einfach abgezogen. Damit solle „das Schwarzfahren rentabel“ werden, meinte der Erfinder der Handy-App. Tatsächlich wurde sie sogar mit dem tschechischen Entwicklerpreis „AppParade“ ausgezeichnet. Was ebenfalls nur in Tschechien möglich erscheint.

250.000 Schwarzfahrer
Die Prager Verkehrsbetriebe reagierten darauf mit der lapidaren Feststellung, dass die Nutzung des Internets eben nicht zensiert werden könne. Dafür bieten sie umgekehrt auch einen Online-Dienst an: Fahrgäste (mit Handy und einer tschechischen SIM-Karte) können ihr Ticket bequem per SMS kaufen. Der Ticketcode kommt kurze Zeit später ebenfalls per SMS zurück.

60 Prozent der Nutzer dieses Dienstes seien neu zahlende Fahrgäste und kämen „aus den Reihen der unfreiwilligen Schwarzfahrer“, wie die Prager Verkehrsbetriebe auf ihrer Homepage mitteilten. Dank dieser Neuerung sei die Zahl der ständigen Schwarzfahrer angeblich um ein Prozent und der „weniger unfreiwilligen“ Schwarzfahrer um etwa 16 Prozent gesunken.

Dumm nur, wenn ausgerechnet bei einer Kontrolle der Akku des Handys leer ist – was kürzlich eine Passagierin in Linie 9 erleben musste. Der Kontrolleur gab ihr Zeit, das Gerät zu aktivieren. Kurz vor dem Nationaltheater stufte er sie endgültig als blinde Passagierin ein und brummte ihr eine Strafe auf. Er war einer von etwa 150 Kontrolleuren, die ihre „Kunden“ vor allem auf den meistbefahrenen Abschnitten im Zentrum und auf „Touristenstrecken“ in den Trams 22, 18, 17 oder 9 erwischen. Sie erfassen im Schnitt 250.000 Schwarzfahrer pro Jahr, bei etwa sieben Millionen Kontrollierten. Mit diesem Risiko müsse man einfach leben, sagte selbst der Programmierer der Handy-App. Aber der Versuch, dem „natürlichen Feind“ zu entgehen, verschaffe auch einen Adrenalinkick.

Bis zum Präsidenten
Falls dies nicht gelinge, müsse man „irgendeine Erklärung parat haben“, rät Kopetzki, „und sei sie noch so abstrus.“ Einmal geriet ich im Tunnel der Umsteigestation „Muzeum“ in die Fänge von Kontrolleuren. Mein Tagesticket für 110 Kronen war vor einer Viertelstunde abgelaufen. „Klarer Fall“, sagte der korpulente Mann in grauer Lederjacke. „Warum?“, entgegnete ich trotzig, „als ich losfuhr, war es noch gültig.“

Geduldig machte mir der Uniformierte klar, dass das Ende der Fahrzeit entscheidend sei. „Warum?“, blieb ich stur, „beim Kauf des Tickets im Infozentrum Anděl sagte man mir, dass es zu Beginn der Fahrt gültig sein muss.“ Der Kontrolleur war natürlich im Recht, wollte aber zu meinen Gunsten nicht ausschließen, dass ich seinen Kollegen falsch verstanden hatte. Oder dass er aus Versehen tatsächlich eine solche Angabe gemacht hatte.

Er rief einen anderen Kontrolleur herbei. „Klarer Fall“, bestätigte der, „Strafe“. Ich bestand darauf, mit ihren Vorgesetzten zu sprechen. Schließlich müsse man sich auf die Auskunft einer städtischen Dienststelle hundertprozentig verlassen können. „Sie zahlen nicht?“, fragte er nach. „Erst der Vorgesetzte!“, antwortete ich. „Und am Ende wollen Sie noch zum Staatspräsidenten“, fauchte er, sichtlich genervt, sich so lange mit mir beschäftigen zu müssen, während ihm nach seiner Einschätzung gerade viele andere Schwarzfahrer entgingen. „Warum nicht“, gab ich zurück. „es geht hier um die grundsätzliche Frage, welchen Wert eine offizielle Angabe besitzt.“ Mit ärgerlicher Miene wies er mich an, rasch weiter zu gehen.

Blinder Passagier im Sarg
Kopetzki kam auf den Titel seines Buches („Im Sarg nach Prag“), weil er auf einer Zugfahrt von Wien nach Berlin einem Kontrolleur nur dadurch entkam, dass er in einen Sarg im Gepäckwaggon stieg – und in Prag-Holešovice landete. Das empfand er am Ende „als Geschenk“.

Hätte er hier seine Schwarzfahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln fortgesetzt, müsste er 1.500 Kronen Strafe zahlen, rund 55 Euro. Oder 800 Kronen, wenn er die Rechnung gleich an Ort und Stelle begleicht. Dadurch nehmen die Prager Verkehrsbetriebe umgerechnet an die fünf Millionen Euro im Jahr ein.

Doch fast das Dreifache entgeht ihnen durch Schwarzfahrer. So stimmt doch, was Mathias Kopetzki über sich selbst schreibt: „Selbstverständlich bin ich ein Arschloch, ein Sozialschmarotzer, das steht außer Frage.“