Zur falschen Zeit am falschen Ort

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Vor 625 Jahren, am 20. März 1393, wurde Johannes Nepomuk zu Tode gefoltert. Anschließend warfen die Folterknechte König Wenzels IV. seine Leiche von der Karlsbrücke in die Moldau

20. 3. 2018 - Text: Josef Füllenbach

Über das Leben des Johannes Nepomuk wissen wir herzlich wenig. Dafür sind die Legenden, die sich um diesen Kirchenmann aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ranken, umso zahlreicher und farbiger. Nach der im Hinblick auf seine spätere Heiligsprechung wichtigsten Legende soll sich Johannes Nepomuk auch unter schwerster Folter, die unmittelbar zu seinem Tode führte, geweigert haben, dem eifersüchtigen König Wenzel die Sünden zu verraten, die dessen Gemahlin Sophie gebeichtet hatte.

Johannes Nepomuk (ursprünglich Jan oder Johánek aus Pomuk) wurde in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts in Pomuk (heute Nepomuk) geboren, einem Städtchen gut 30 Kilometer südlich von Pilsen gelegen. Vermutlich entstammte er einer deutschböhmischen Familie. Seine Jugend liegt weitgehend im Dunkel, doch muss er eine gründliche Ausbildung genossen haben. Denn im April 1369 tritt er erstmals für uns sichtbar in Erscheinung: Er legte im erzbischöflichen Palais auf der Kleinseite seine Prüfung als Notar ab und leistete den für dieses Amt vorgeschriebenen Eid. Über mehrere Stufen und nach einem mit dem Doktordiplom abgeschlossenen juristischen Studium in Padua rückte der offenbar fähige und fleißige Jurist Nepomuk 1389 auf zum Generalvikar der Prager Erzdiözese unter Erzbischof Johann von Jenstein (Jan z Jenštejna). Damit stand er in der Erzdiözese faktisch an zweiter Stelle und vertrat als Kirchenrechtler den Erzbischof in fast allen Rechtsangelegenheiten. Daneben versah Nepomuk in den ihm verbleibenden Jahren noch die Ämter eines Kanonikers beim Vyšehrader Kapitel und des Erzdiakons von Saaz (Žatec).

Johann von Jenstein (Büste im Prager Veitsdom)

Johann von Jenstein, als 25-Jähriger schon Bischof von Meißen, übernahm Ende 1378 im Alter von 29 Jahren die Erzdiözese Prag, nur wenige Wochen vor dem Tod Karls IV. Ende November. Er war ein eleganter, hochgebildeter und weltgewandter Adliger, der mit dem aus gröberem Holz geschnitzten König Wenzel nicht zurechtkam. Als Jenstein sich nach dem Erlebnis einer Marienvision zunehmend der Mystik, dem Marienkult und geistlicher Poesie zuwandte, verlegten sich Wenzel und seine Gefolgsleute, darunter besonders sein Vetter Prokop aus Mähren, immer mehr darauf, den empfindsamen Jenstein durch gezielte Provokationen zu unüberlegten Reaktionen zu provozieren, bei denen er letztlich stets den Kürzeren zog. „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Konflikte mit dem überreizten, exaltierten Jenstein für die bodenständigen Höflinge und Günstlinge Wenzels letztlich zu einer gewissen Art der Unterhaltung wurden.“ (Vít Vlnas) Die Autorität des Prager Erzbischofs zerbröckelte dabei zusehends.

Dem letzten dieser Einfälle aus Wenzels Umgebung, Jenstein zur Weißglut zu treiben, sollte schließlich Johannes Nepomuk auf tragische Weise zum Opfer fallen. Der von Wenzel gutgeheißene Plan sah vor, im Westen von Böhmen ein neues Bistum zu errichten, um Jensteins Wirkungskreis zu beschneiden und gleichzeitig Posten für Gefolgsleute des Königs zu schaffen. Der schon kränkelnde Abt Racek der Benediktinerabtei Kladruby sollte keinen Nachfolger bekommen; stattdessen sollten die Ländereien der Abtei die wirtschaftliche Grundlage des angedachten neuen Bistums bilden. Als Racek Ende Februar/Anfang März 1393 tatsächlich starb, wählten seine Mitbrüder Pater Olen zum neuen Abt und baten umgehend die Kanzlei des Erzbischofs um Bestätigung der Wahl. Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit stellte Nepomuk auf Jensteins Geheiß die Bestätigungsurkunde aus, ohne dass der auf einer seiner Jagdburgen weilende Wenzel die Möglichkeit zum Einspruch gehabt hätte. Erst post festum erfuhr er davon, dass sich sein schönes neues Bistum in Luft aufgelöst hatte.

Statue Wenzels IV. (Altstädter Brückenturm)

Als der wütende Wenzel kurz darauf nach Prag zurückkehrte, hatte sich Jenstein mit einigen seiner Getreuen, darunter auch Nepomuk, auf seine festungsartige Burg Roudnice hoch über der Elbe in Sicherheit gebracht. Doch Wenzel vermochte es, die Flüchtigen zurück nach Prag zu locken, um den Streit beizulegen. Die entscheidende Aussprache war für den frühen Morgen des 20. März in einem Gebäude des Ritterordens der Johanniter auf der Kleinseite angesetzt. Wenzel, angeblich schon angetrunken, traf mit bewaffnetem Gefolge ein, und schon der erste Wortwechsel zwischen ihm und Jenstein machte alle Hoffnung auf eine Versöhnung zunichte. „Glaub mir, das wirst du bereuen und Deine Leute ebenso!“ soll Wenzel noch ausgerufen und dann seinen Begleitern befohlen haben, Jenstein, Nepomuk und weitere zwei Amtsträger der erzbischöflichen Kanzlei festzunehmen und zur Burg zum Verhör zu bringen.

Erzbischof Jenstein gelang es, im letzten Augenblick zu entkommen. So wurde nur Nepomuk mit seinen Kollegen zur Burg hinauf abgeführt. Das königliche Verhör führte zu nichts, so dass Wenzel die Unglücklichen schließlich in das Gefängnis der „Stará rychta“ in der Altstadt bringen ließ, einem Gerichtsgebäude, das in seinem Kern bis heute erhalten ist: Es steht an der Ecke Rytířská (Rittergasse) / Na můstku (Brückel). Das ursprünglich gotische Gebäude erhielt Ende des 16. Jahrhunderts ein Renaissanceportal und 1798 ein neues klassizistisches Gewand, und so ist es bis in unsere Tage geblieben (vgl. Abbildung). Dort harrten die drei Gefangenen bis zum Abend der weiteren Dinge.

Gerichtsgebäude in der Altstadt („Stará rychta“)

Nachdem Wenzels Häscher vergeblich versucht hatten, des geflüchteten Erzbischofs habhaft zu werden, kam der König persönlich zu den Gefangenen, um dem wieder aufgenommenen Verhör beizuwohnen. Er verlor jedoch bald die Geduld und ließ den Scharfrichter rufen, um die Folter vorzubereiten. Die Gefangenen wurden an den auf den Rücken gebundenen Händen nach oben gezogen und auf verschiedene Weisen, unter anderem mit Fackeln, gepeinigt. Wenzel selbst soll dabei auch mit Hand angelegt haben. Nach seinen eigenen Worten wollte er so herausbekommen, wer den Rat dazu gegeben hatte, sofort einen neuen Abt zu ernennen – so berichtet es Jenstein etwas später in einer an den Papst gesandten Anklageschrift. Möglicherweise machte sich der König nach einiger Zeit das Verwerfliche seines Tuns bewusst, denn obwohl auch das „verschärfte Verhör“ (die Inquisition nannte es später „peinliche Befragung“) ergebnislos blieb, entschied Wenzel, die Gefangenen freizulassen.

Nepomuks Gefährten entkamen dem möglichen Tode. Nepomuk selbst, von insgesamt schwächlicher Konstitution, war schon ohne Bewusstsein, als er auf den Boden heruntergelassen wurde, und verschied wenig später an Ort und Stelle. Wie Untersuchungen seines Schädels im Jahre 1972 ergaben, muss er zusätzlich harte Schläge mit der Faust oder Fußtritte links an den Kopf erlitten haben, die Gehirnblutungen zur Folge hatten und letztlich den Tod herbeiführten. Die Gehilfen des Scharfrichters schleppten die Leiche anschließend durch die dunklen Gassen der Altstadt zur Karlsbrücke und warfen sie gegen neun Uhr abends in die Moldau.

Gitter an der Stelle, von wo Nepomuk in die Moldau gestürzt wurde

Soweit das Leben des Generalvikars Johannes Nepomuk, wie es sich anhand der Fakten rekonstruieren lässt. Nepomuks Biograph Vít Vlnas resümiert, Nepomuk sei „zunächst Opfer eines Machtkonflikts geworden und danach prominenter Heiliger der katholischen Kirche – beides als Folge eines unglücklichen historischen Zufalls, keineswegs aus eigenem zielstrebigem Bemühen. Kurz gesagt, dieser Mann befand sich am 20. März 1393 zur falschen Zeit zwar auf der richtigen Seite, aber am falschen Ort.“ Eigentlich habe es also keinen Grund für die Kanonisierung und das grandiose „zweite Leben“ des Johannes Nepomuk gegeben, das sich zunächst nur zaghaft und vereinzelt entfaltete, doch mit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als breite Volksbewegung das ganze Land erfasste und sich auch weit über die Grenzen der böhmischen Länder hinaus ausbreitete.

Höhepunkt des Nepomuk-Kults in Prag waren zweifellos die Feierlichkeiten vom  9. bis 16. Oktober 1729 anlässlich der Heiligsprechung des „Hüters des Beichtgeheimnisses“, die Papst Benedikt XIII. am 19. März in Rom vorgenommen hatte. Mit diesen großartigen Festlichkeiten erreichten die langjährigen Bemühungen endlich ihr Ziel, den einstigen Generalvikar zu den Altären zu erheben. Den pompösen Festreigen kann man aber auch lesen als demonstrativen Triumph der Rekatholisierung: Jetzt verneigten sich die Nachkommen der einstigen Häretiker vor dem Bewahrer des Beichtsakraments als vor einem Repräsentanten der allein selig machenden Kirche.

Statue von Jan Nepomuk auf der Karlsbrücke

Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu diesem Triumph war im „Gedenkjahr“ 1683 die Errichtung der Nepomuk-Statue auf der Karlsbrücke (damals ging man noch irrtümlich von 1383 als dem Todesjahr Nepomuks aus). Stifter der Statue war der große Verehrer des späteren Brückenheiligen Baron Matthias Gottfried von Wunschwitz. Er ließ von dem Wiener Künstler Matthias Rauchmiller eine kleine Figur Nepomuks aus Ton fertigen, nach der Jan Brokoff, der Begründer der berühmten Prager Bildhauerwerkstatt, im Auftrag Wunschwitz’ eine lebensgroße Holzplastik schuf. In Nürnberg nahm der nicht weniger bedeutende Gießer Wolf Hieronymus Herold von der Holzstatue einen Bronzeabguss, der am 31. August 1683 auf der Karlsbrücke seinen bleibenden Platz fand.

Diese Statue wurde zum Vorbild für fast alle folgenden Nepomukplastiken, ob aus Holz, aus Stein oder Bronze, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die Brücken, Wege, öffentlichen Plätze, Nischen an gewöhnlichen Bürgerhäusern und natürlich viele Kirchen in den böhmischen Ländern, aber auch in Österreich und Bayern und darüber hinaus bevölkerten. Sogar am Rheinufer von Bonn-Beuel wacht der Heilige Nepomuk seit 1862 über die rege Schifffahrt auf dem Strom und grüßt Schiffer und Reisende.

Statue des Johannes von Nepomuk am Rheinufer in Bonn-Beuel

Die Karlsbrücke war vorher fast schmucklos; nur ein hohes Kreuz mit dem Gekreuzigten nicht weit vom Altstädter Brückenturm entfernt sowie auf gleicher Höhe gegenüber ein Bildstock (inzwischen durch eine Pieta ersetzt) standen seit dem 15. Jahrhundert auf der Brücke. Die Aufstellung der Nepomuk-Statue leitete die vollständige Nutzung aller Brückenpfeiler zur Errichtung von Heiligenstatuen ein. Die meisten davon entstanden in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, also in der Blütezeit des böhmischen Barock, und machten aus der Brücke seither eine einzigartige Galerie der Bildhauerkunst.

Das von Jan Brokoff geschaffene Modell aus Holz brachte der Stifter Baron Wunschwitz in der Hauskapelle seines Palais am Rossmarkt (heute: Wenzelsplatz) unter, wo es viele Gläubige aufsuchten, um dem Heiligen die Ehre zu erweisen. Erst 1819 fand die heute gänzlich vergoldete Holzfigur einen dauerhaften Platz auf dem Hauptaltar in der Kirche des Heiligen Johannes Nepomuk auf dem Felsen in der Prager Neustadt, gegenüber dem Emmauskloster der Benediktiner. Zusätzlich hat man eine Nepomuk-Statue auf den Schalldeckel der Kanzel der Kirche gestellt. Die Heiligsprechung Nepomuks 1729 gab den Impuls, eine an dieser Stelle schon bestehende kleine Nepomuk-Kapelle durch den barocken Kirchenbau zu ersetzen, an dessen Planung und Bau Kilian Ignaz Dientzenhofer maßgeblichen Anteil hatte.

Kirche des Heiligen Nepomuk auf dem Felsen

Nepomuk-Statuen in der Kirche des Heiligen Nepomuk auf dem Felsen (links auf dem Kanzeldach, rechts auf dem Altar)

Aber auch Dichter haben sich des Stoffes angenommen. Goethe, der 17 Mal zu Bäderkuren in Böhmen weilte, ist der allgegenwärtige Nepomuk natürlich nicht entgangen; vermutlich 1806 reimte er auf einer dieser Reisen:

Auf großen und auf kleinen Brucken
Stehn vielgestaltete Nepomuken
Von Erz, von Holz, gemalt, von Stein,
Colossisch hoch, und puppisch klein.
Jeder hat seine Andacht davor,
Weil Nepomuk auf der Brucken das Leben verlor.

Lyrisch nicht gerade ein Juwel, aber gleichwohl treffend beobachtet. Und er scheint den Heiligen gemocht zu haben, denn auf einer Reise in die Schweiz notierte er am 16. September 1797 in sein Reisetagebuch: „Wir erreichen Hechingen halb sieben Uhr … Auf der Brücke sehe ich seit langer Zeit den ersten heiligen Nepomuk, der aber auch wegen der schlechten Wege nötig war. Sehr schöne Kirche.“

Rainer Maria Rilke brachte 1895, gerade zwanzigjährig, den Gedichtband „Larenopfer“ heraus, der ganz seiner Heimatstadt Prag gewidmet ist. Auch ihm war die Sonderstellung von Johannes Nepomuk unter den zahlreichen und keineswegs nur auf der Karlsbrücke, sondern überall in Prag aufgestellten Heiligenfiguren ins Auge gefallen. In seinem Gedicht „Heilige“ heißt es:

Große Heilige und kleine
feiert jegliche Gemeine;
hölzern und von Steine feine,
große Heilige und kleine.

Wenzel lass ich auch noch gelten,
weil sie selten ihn bestellten;
denn zu viele gelten selten –
nun, Sankt Wenzel lass ich gelten.
Aber diese Nepomucken!
Von des Torgangs Lucken gucken
und auf allen Brucken spucken
lauter, lauter Nepomucken!

Das gilt auch noch heute: Man kann in Prag kaum zwanzig Schritte tun, ohne an irgendeiner Ecke, über einem Hauseingang, neben einem Kirchenportal, als Schmuck eines Brunnens oder einer Säule auf den heiligen Nepomuk zu stoßen. Wäre es 1918/19 nach dem Willen der neuzeitlichen Bilderstürmer gegangen, hätte es wohl einen Kahlschlag unter den Nepomukfiguren gegeben. Nicht bloß die Mariensäule auf dem Altstädter Ring sollte fallen, auch Nepomuk war den nationalistischen Heißspornen ein Dorn im Auge. Er war ja schon als Generalvikar in einen politischen Streit geraten. Später wurde er in der Rekatholisierung politisch instrumentalisiert, um seinen Namensvetter Johannes Hus vergessen zu machen. In den nationalen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts und nach dem Ersten Weltkrieg schlug das Pendel wieder zurück und Nepomuk drohte unter die Räder zu kommen.

Inzwischen ist Johannes Nepomuk kein Grund mehr zur Aufregung. Er gehört sozusagen zum Mobiliar der böhmischen Dörfer, Städte und Landschaften. Nepomuk hat aufgehört, entweder als Kultfigur oder als Hassobjekt die Emotionen auf sich zu ziehen. Würde er plötzlich aus Böhmen verschwinden, dann fiele es vielleicht nicht einmal sofort auf, aber man spürte wohl, dass etwas fehlt, ohne es genau benennen zu können. Ebenso wie man ihn kaum noch richtig wahrnimmt, obwohl er so allgegenwärtig ist. Nepomuk ist in Prag und Böhmen nicht nur heimisch geworden, er ist ein Stück Heimat.

Kommentare

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  1. Johann Wolfgang von Goethe
    St. Nepomuks Vorabend

    (Karlsbad, 15. Mai 1820)

    Lichtlein schwimmen auf dem Strome,
    Kinder singen auf den Brücken,
    Glocke, Glöckchen fügt vom Dome
    Sich der Andacht, dem Entzücken.

    Lichtlein schwinden, Sterne schwinden;
    Also löste sich die Seele
    Unsres Heilgen, nicht verkünden
    Durft er anvertraute Fehle.

    Lichtlein schwimmet! Spielt, ihr Kinder,
    Kinder-Chor, o! singe, singe!
    Und verkündiget nicht minder,
    Was den Stern zu Sternen bringe.





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