„In autokratischen Systemen bedarf es viel mehr Mut“

Rostislav Valvoda leitet das neue „Prague Civil Society Center“. Von Tschechien aus will die Einrichtung die Zivilgesellschaft im postsowjetischen Raum stärken
12. 3. 2015 - Text: Katharina Wiegmann
Demonstranten auf dem Maidan in Kiew, Umweltschützer in Ungarn oder Aktivisten für die Rechte Homo- und Transsexueller in Russland – persönlich mögen diese Menschen nicht viel gemeinsam haben. Sie eint jedoch, dass sie sich für ihre Ziele und Ideale engagieren. In Tschechien eröffnete im Februar das „Prague Civil Society Center“, das aktive Bürger vor allem in den postsowjetischen Ländern unterstützen möchte. PZ-Autorin Katharina Wiegmann sprach mit dem Direktor des Zentrums Rostislav Valvoda über Engagement und Krisen, Chancen für die Ukraine und seine Kritik an der hiesigen Zivilgesellschaft.
Was bedeutet Zivilgesellschaft für Sie?
Rostislav Valvoda: Unser Vorstandsmitglied Timothy Snyder beschrieb die Zivilgesellschaft anlässlich der Eröffnung des Zentrums als die Substanz der Gesellschaft. Das ist alles, was zwischen Individuum und Staat existiert, was die Lebendigkeit einer Gesellschaft ausmacht, was Menschen glücklich macht und gegenseitiges Vertrauen schafft. Wenn von Zivilgesellschaft gesprochen wird, sind in erster Linie Nichtregierungsorganisationen gemeint. Aber Zivilgesellschaft ist nicht immer institutionell organisiert. Oft ist es einfach eine Gruppe von Menschen mit denselben Interessen; Menschen, die sich einen Wandel in der Gesellschaft wünschen und zu diesem Zweck zusammenarbeiten, manchmal auch nur über das Internet. Das war zum Beispiel während der Hochwasserkatastrophe im Jahr 2013 in Russland zu beobachten. Aus dem Nichts meldeten sich Leute, die bereit waren zu helfen und den Flutopfern ihre Sofas zur Übernachtung anzubieten. Geld, Essen, Kleidung, was auch immer gebraucht wurde, um den Betroffenen zu helfen. All dies wurde ohne Zutun des Staates organisiert.
Unter welchen Bedingungen kann sich eine lebendige Zivilgesellschaft entwickeln?
Valvoda: Natürlich ist es einfacher in Demokratien, wenn Minderheiten bestimmte Rechte garantiert werden und die Macht der Regierung durch Gewaltenteilung beschränkt ist. In demokratischen Systemen ist die Zivilgesellschaft ein stabilisierender Faktor, der in Krisensituationen dem Staat dabei helfen kann, Probleme zu lösen. In autokratischen Systemen bedarf es viel mehr Mut, Ausdauer und Risikobereitschaft, um sich einzumischen. Solche mutigen Leute gibt es. Wir wollen sie dabei unterstützen, an einer besseren Zukunft für ihre Länder zu arbeiten.
Wie wird Ihre Hilfe konkret aussehen?
Valvoda: Wir werden vor allem mit regionalen NGOs zusammenarbeiten. Unser Zentrum wurde von drei Organisationen gegründet: „Mensch in Not“ aus Tschechien, dem polnischen „Institut für öffentliche Angelegenheiten“ und einer norwegischen Menschenrechtsstiftung. Alle drei haben langjährige Erfahrung in der Arbeit im postsowjetischen Raum und gute Netzwerke, die wir nutzen werden. Das Büro in Prag wird als Koordinierungszentrum dienen für die Aktivitäten in Ländern wie der Ukraine, Georgien oder Moldawien. Aber auch hier in Mittelosteuropa, in Polen oder Ungarn. Menschenrechtsorganisationen stehen im Moment sehr unter Druck, daher wird ihre Unterstützung einen Schwerpunkt unserer Arbeit bilden. Aber wir werden auch Engagement für andere Themen unterstützen, zum Beispiel für urbane Entwicklung oder den Wunsch, Städte fahrradfreundlicher zu machen. Es kann auch um Umwelt gehen oder LGBT-Rechte. Wir werden außerdem Programme für Praktika und Forschungsaufenthalte entwickeln; für Aktivisten, die ihre Heimat vorübergehend oder für immer verlassen müssen. Für diese Leute wollen wir eine Möglichkeit schaffen, sich auch im Ausland weiter mit ihren Themen zu beschäftigen, unabhängig zu forschen und frei zu reisen.
Sie wollen auch Hilfe zur Selbsthilfe leisten …
Valvoda: Es wäre zum Beispiel schön, Menschenrechtsorganisationen mit professionellen Fotografen oder Filmemachern zusammenzubringen, die ihnen dabei helfen können, ihre Ziele einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln – auf eine ansprechende und verständliche Weise. Solche Kooperationen würden wir gerne auch grenzüberschreitend vermitteln. Vielleicht ist es für einen russischen Filmemacher schwierig, in diesem Bereich zu arbeiten, für Kollegen aus der Ukraine oder Weißrussland können aber schon wieder andere Regeln gelten. Für uns ist es wichtig, Kooperation und Vertrauen über Grenzen hinweg zu fördern. Besonders im Moment, wo der Krieg zwischen Russland und der Ukraine dieses Vertrauen zerstört.
Für die Zivilgesellschaft in der Ukraine muss es derzeit sehr schwierig sein, ihren Handlungsspielraum zu verteidigen. Andererseits hat die Krise viel Aufmerksamkeit auf das Land gezogen. Besteht darin vielleicht auch eine Chance für die Entwicklung des Landes?
Valvoda: In den vergangenen Monaten folgte in der Ukraine eine Krisensituation auf die andere. Es gab eine Zivilgesellschaft, die auf diese Notfälle reagierte – zum Beispiel mit Verpflegung für die Demonstranten auf dem Maidan in Kiew oder mit medizinischer Hilfe, als die Gewalt ausbrach. Auch die Spendenbereitschaft für Opfer, die während der Schießereien verwundet wurden, war sehr hoch. Als die erste Welle von Flüchtlingen von der Krim kam, wurden viele von Familien in der Westukraine aufgenommen. Die Gesellschaft war oft handlungsfähiger als die Regierung. Aber diese Ressourcen sind nicht unendlich. Die zentrale Forderung der Demonstranten war „wir wollen Reformen“. Aber wie kann man in einem Zustand des Chaos über Reformen nachdenken? Die Situation ist definitiv schwieriger als zuvor, die internationale Aufmerksamkeit hat hier keinen Effekt.
In welchen anderen Ländern benötigt die Zivilgesellschaft dringend Unterstützung?
Valvoda: Wir wollen in Ländern und Regionen aktiv werden, in denen sich andere Organisationen und Spender eher nicht engagieren, weil sie nur schwer zugänglich sind. Außerdem wollen wir uns auf besonders repressiv regierte Gegenden konzentrieren: Russland, Weißrussland, Aserbaidschan und auch Zentralasien, wo die Situation wirklich schwierig ist. Ein gutes Beispiel ist Turkmenistan. Das System ist so repressiv, dass nahezu keine Informationen das Land verlassen können. Freier Journalismus oder Menschenrechtsarbeit ist unmöglich. Leute, die es versuchen, landen im Gefängnis oder verschwinden.
Wie würden Sie den Zustand der Zivilgesellschaft in Tschechien beschreiben?
Valvoda: Ehrlich gesagt eher kritisch. Diese Kritik richtet sich durchaus auch gegen mich selbst. Wenn man sich die Offenheit des Systems anschaut und die Möglichkeiten, die zivilgesellschaftliche Akteure hier haben, muss man feststellen, dass nicht genug Druck auf die Regierung ausgeübt wird, zum Beispiel beim Thema Korruption. Im Vorfeld der letzten Wahlen gab es eine Initiative namens „Umbau des Staates“ – eine Koalition verschiedener Gruppen, die sich für mehr Transparenz engagieren. Sie drängten auf eine Änderung bestimmter Gesetze, die Türöffner für Korruption sind, und veröffentlichten eine Anleitung mit Änderungsvorschlägen, welche die Anfälligkeit für Korruption verringern würden. Die Initiative hat es geschafft, ihre Ziele der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Leider war die Aktion trotzdem nicht wirklich erfolgreich, umgesetzt wurden die Vorschläge nicht.
Wie hat die Politik auf diese Initiative reagiert?
Valvoda: Die Reaktionen waren regelrecht hysterisch, und zwar parteiübergreifend. Das zeigte, dass Politiker in Tschechien nicht wissen, was öffentliche Kontrolle bedeutet. Auf der einen Seite ist die Initiative „Umbau des Staates“ ein Beispiel dafür, was eine Zivilgesellschaft leisten kann, andererseits gibt es immer ein „Aber“ hinsichtlich der Umsetzung. Im Großen und Ganzen könnten wir hier sehr viel besser dran sein.
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