Im Schmelztiegel

Im Schmelztiegel

Ines Koeltzsch über die Verflechtung der tschechischen, jüdischen und deutschen Kultur im Prag der Zwischenkriegszeit

31. 10. 2012 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: Bildarchiv Foto Marburg

Sarkastisch beschrieb Egon Erwin Kisch (1885–1948), wie sich Deutsche und Tschechen im Prag der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einander abgeschottet hätten: „Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr. Niemals zündete er sich mit einem Streichholz des Tschechischen Schulgründungsvereins seine Zigarre an, ebenso wenig ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Kasino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte.“

Die Historikerin Ines Koeltzsch hat nun mit ihrer Dissertation „Geteilte Kulturen“ eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag von 1918 bis 1938 vorgelegt, mit der sie die These von den eindeutig abgrenzbaren ethnisch-nationalen Gruppierungen hinterfragt. Am Beispiel der Bevölkerungsstatistik, der Politik des Prager Magistrats, der Presse und der Populärkultur in der Hauptstadt zeichnet sie ein komplexeres Bild vom Zusammenleben beziehungsweise Nebeneinander von Tschechen, Deutschen und Juden während der Zwischenkriegszeit.

Die Stimme der Presse
Die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Prag durchgeführten Volkszählungen waren stark geprägt von nationalistischen Interessen. Gefragt wurde nach einer eindeutigen mit einer Sprache verbundenen nationalen Identität. Mehrfachnennungen waren nicht zugelassen, nach der Mehrsprachigkeit vieler Einwohner Prags wurde nicht gefragt. So konnte das unzutreffende Bild einer Stadtbevölkerung entstehen, die in streng voneinander geschiedenen nationalen Gesellschaften lebte.

Tatsächlich gab es zahlreiche tschechische und deutsche Autoren und Übersetzer, die einen bedeutenden Beitrag auf dem Gebiet der kulturellen Vermittlung leisteten. Intellektuelle versuchten mit Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften in einer national polarisierten Gesellschaft kulturelle Vermittlungsarbeit zu leisten. Das „Prager Tagblatt“ veröffentlichte regelmäßig Texte tschechischer Autoren auf Deutsch und berichtete über Veranstaltungen  sowohl der deutschen als auch der tschechischen Kulturszene. Ab 1930 richtete die Redaktion in ihrer Kinderbeilage die Rubrik „Kinder, wir wollen Tschechisch lernen“ ein. Gemeinsam warben das „Prager Tagblatt“ und die tschechische Brünner Tageszeitung „Lidové noviny“ 1924 für einen deutsch-tschechischen Kinderaustausch in den Sommerferien. Das „Prager Tagblatt“ beschrieb das Ziel des Projektes: Damit solle „das wechselseitige Kennenlernen der beiden Nationen“ gefördert und „eine Schar künftiger Bürger dieses Staates zu einer von Chauvinismus und nationaler Voreingenommenheit freien Generation“ herangezogen werden.“

Auf der anderen Seite veröffentlichten tschechische Zeitungen wie „Tribuna“, „Lidové noviny“ oder „Právo lidu“ Texte deutscher Autoren und informierten ihre Leser über die deutschsprachige Kunst und Literatur. Die Tageszeitung „Tribuna“, 1919 vom „Verein tschechischer progressiver Juden“ gegründet, gab ab 1925 die deutschsprachige Wochenzeitung „Der neue Weg“ heraus. Sie bot dem deutschen Leser wöchentlich einen Querschnitt tschechischer Presseartikel und druckte Auszüge aus literarischen Werken tschechischer Autoren in deutscher Sprache ab. In der Unkenntnis der Deutschen über das öffentliche tschechische Leben sah die Zeitung die entscheidende Ursache für die nationalen Spannungen. Auf der anderen Seite warb sie bei ihren tschechischen Lesern dafür, sich mehr für die Lebenswelt der deutschsprachigen Bürger zu interessieren. In einem Artikel unter der Überschrift „Beachten wir unsere Deutschen“ forderte der tschechische Intellektuelle František Václav Krejčí die Tschechen auf, sich der Tatsache zu stellen, dass „mehr als drei Millionen Deutsche, also ein immerhin ganz starker Bruchteil eines der stärksten und kulturellsten Völker der Welt unter der Hoheit eines Staates leben, den wir gegründet haben.“

(K)eine Frage der Sprache
Die Verständigung zwischen Tschechen und Deutschen und die Förderung eines jüdisch-nichtjüdischen Dialogs in der tschechoslowakischen  Republik war das Ziel der Halbmonats- beziehungsweise Wochenzeitschrift „Die Wahrheit“, die von 1921 bis 1938 in Prag erschien. Regelmäßig wurden in der Zeitschrift Beiträge über die Idee eines vereinten Europas, über die pazifistische Bewegung, den christlich-jüdischen Dialog und über den Antisemitismus in Mittel- und Osteuropa veröffentlicht. 1934 lud die Zeitschrift Heinrich Mann ein, der darauf im großen Saal der Städtischen Bücherei über die Situation im nationalsozialistischen Deutschland sprach und aus seinen Werken vorlas.

Rückblickend auf eine zehnjährige Publikation stellte die Zeitschrift 1931 fest: „Die Wahrheit“ war das erste Blatt, das sich offen für eine deutsch-tschechische Kollaboration zu einer Zeit einsetzte, als noch in beiden Lagern der krasseste Nationalismus in die Halme schoss. Sie hat von allem Anfang das Programm der Vereinigten Staaten Europas zu einer Zeit vertreten, als für solche Gedanken nur Hohn und Spott übrig war – heute kann sie mit Befriedigung feststellen, dass das, wofür sie gekämpft hat und kämpft, keine Utopien mehr sind.“ Das Jahr 1933 machte diese optimistische Perspektive zunichte. Die Zeitschrift sah sich konfrontiert mit einer Radikalisierung des tschechischen und deutschen Nationalismus sowie einer Zunahme des Antisemitismus bei Deutschen und Tschechen im eigenen Land.

Auch die tschechischsprachige Zeitung „Přítomnost“ trat für ein Programm des kulturellen Austausches im multinationalen tschechoslowakischen Staat ein. Unter anderem ließ sie den jungen tschechischen Journalisten Otto Rádl zu Wort kommen, der bei seinen Landsleuten für die deutschsprachige Literatur warb. 1930 kritisierte er unter der Überschrift „Die Frage der deutschen Sprache in Prag“ die Sprachpolitik der nationalistischen Kommunalpolitiker. Der Alltag in Prag zeige, dass die deutsche Sprache ihren festen Platz im Leben der Hauptstadt habe. Man könne in den Prager Geschäften problemlos auf Deutsch einkaufen, andererseits habe man ohne deutsche Sprachkenntnisse kaum eine Chance, einen Arbeitsplatz in der Geschäftswelt zu bekommen.

Unter dem Titel „Urbane Zwischenräume“ weist Ines Koeltzsch nach, dass in der Großstadtkultur der Hauptstadt Prag die nationalen Abgrenzungen nur eine untergeordnete Rolle spielten. Vor allem der Wenzelsplatz entwickelte sich zu einem Raum des transnationalen und transkulturellen Austausches. In der Zwischenkriegszeit avancierte Prag zur Hochburg des Kinos und der Filmindustrie. 1919 zählte man in Prag fast vierzig Kinos, 1930 waren es bereits über einhundert. Zum Kassenschlager wurde die 1931 gedrehte Filmkomödie „Muži v offsidu“, („Männer im Abseits“), in der der jüdische Geschäftsmann und Fußballfanatiker Richard Načeradec mit dem arbeitslosen Schneidersohn Eman Habásko Freundschaft schließt, obwohl Načeradec  Anhänger von Slavia Prag und Habásko ein Fan von Viktoria Žižkov ist. Offensichtlich konnten sich viele Prager, unabhängig von ihrer Sprache, Nationalität und Konfession mit dem Protagonisten Načeradec identifizieren.

Stadtpolitik gegen die Verständigung
Die Versuche von Vertretern der intellektuellen Presse, von Autoren und Übersetzern, von Künstlern, Kinobesitzern und Eigentümern von Vergnügungslokalen in der Stadt transkulturelle Begegnungen zu ermöglichen, stießen im Prag der Zwischenkriegszeit immer wieder auf Widerstand von Seiten der Stadtregierung. Die Kommunalpolitiker gehörten mehrheitlich radikal-nationalistischen Parteien an. Das Amt des Bürgermeisters hatte Karel Baxa von 1919 bis 1937 inne. Als Abgeordneter im Böhmischen Landtag und im Wiener Reichsrat war er für seine nationalistische Einstellung und seinen Antisemitismus bekannt. In seiner Amtszeit versuchte Baxa wiederholt die Verwendung nicht-tschechischer Sprachen im Stadtbereich einzuschränken. 1924 erstellte der Magistrat ein „Verzeichnis provokativer deutscher Aufschriften und Firmen“. Als „provokativ“ galten zum Beispiel Aufschriften wie „Südfrüchte“ „Mathilde Freund“, „Glocke zum Kirchendiener“, “Augenarzt“, “Essigfabrik“, „Öl, Kerzen, Seifen.“

In den 1929er und 1930er Jahren ließ der Magistrat mehrfach den Gebrauch der „tschechischen Staatssprache“ in den Stadtbezirken überprüfen. Baxa wollte ein generelles Verbot deutschsprachiger Programmnummern in den Nachtklubs und Varietés durchsetzen. Nichtdeutsche Gäste fühlten sich, so die Begründung, gestört von Gruppen „die ohne Rücksicht auf das übrige Publikum deutsche Lieder, insbesondere Berliner und Wiener Gassenhauer, singen.“ Dieses Verhalten könne dazu führen, „die öffentlich Ordnung in unserer friedliebenden und ruhigen Stadt“ zu erschüttern.
Zwar war weder der Bürgermeister noch der Magistrat befugt, deutschsprachige Aufschriften an Gebäuden oder deutschsprachige Auftritte in den Lokalen zu verbieten. Doch führten derartige Kontrollen dazu, dass der chauvinistische Nationalitätenkampf fortgesetzt wurde. Er fand in gewaltsamen Protesten gegen die Vorführung deutschsprachiger Tonfilme 1934 seinen Höhepunkt.

Judenfeindliche Polemik
Ein großer Teil der Prager Kulturvermittler waren Juden, die sich bei ihren Versuchen, die ethnisch-nationalen Grenzziehungen zu überschreiten, oft antisemitischen Angriffen ausgesetzt sahen. Ines Koeltzsch vertritt die These, dass es sich beim tschechischen Antisemitismus in der Ersten Tschechoslowakischen Republik nicht um ein marginales Phänomen gehandelt habe, das etwa durch die wirtschaftliche Not der Nachkriegsjahre  verursacht worden sei. Auch habe es sich nicht um ein „Nebenprodukt“ des tschechisch-deutschen Nationalitätenkonfliktes gehandelt. Sie verweist darauf, dass es nicht nur in den Anfangsjahren der Ersten Republik antisemitische Straßenausschreitungen gegeben hat, sondern auch in den Jahren 1929, 1930 und 1934.

Anfang der dreißiger Jahre und vor allem nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland und der Flucht jüdischer Emigranten in die Tschechoslowakei verschärften sich die antisemitischen Angriffe der tschechisch-nationalistischen Presse. Neben dem Stereotyp des jüdischen Kapitalisten spielte in der judenfeindlichen Polemik tschechischer Nationalisten vor allem der Vorwurf der „nationalen Unzuverlässigkeit“ und der nationalen Nichtidentität eine entscheidende Rolle. Ines Koeltzsch zitiert aus den Erinnerungen des jüdischen Religionslehrers Bedřich Knöpfelmacher. Eine tschechische Kollegin habe ihm ihre Beobachtung mitgeteilt, dass sich nach Hitlers Machtergreifung der Antisemitismus in der Tschechoslowakei verstärkt habe. Nach den Ursachen befragt, antwortete ihm die Kollegin, dass die Juden „dem tschechischen Volk in seiner Not nie geholfen“ und „sich immer dessen Feinden, vor allem den Deutschen zugewandt“ hätten. Das sei immer so gewesen, „von der Schlacht am Weißen Berg bis heute.“

Ines Koeltzsch ist es gelungen, mit einer Fülle von Dokumenten das Prager Alltagsleben in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen auf eindrucksvolle Weise lebendig werden lassen. Sie zeigt, dass Tschechen, Deutsche und Juden weder in einer friedlichen Symbiose miteinander gelebt haben, noch dass Isolation und Abkapselung voneinander ein Zusammenleben unmöglich gemacht haben. Die Alltagswelt der Prager in jenen Jahren war vielschichtiger, widerspruchsvoller und komplexer. Ines Koeltzsch hat die im Zweiten Weltkrieg untergegangene Prager Stadtkultur noch einmal für uns vergegenwärtigt.

Ines Koeltzsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918–1938). Oldenbourg Verlag 2012, 430 Seiten, 54,80 Euro, ISBN 978-3-486-71241-4