„Ich ergreife die Feder, dem Chaos zu entkommen“
In František Listopads Langgedichten vermischt sich Erlebtes mit Erträumtem
10. 7. 2014 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: copyrigt 2013 Radonitzer
Während des nationalsozialistischen Protektorats hatte František Listopad nur mit Mühe und Not überleben können. Freunde hatten ihn, der 1921 als Jiří Synek in eine Prager böhmisch-jüdische Intellektuellenfamilie geboren wurde, im Untergrund versteckt. Gleich nach Kriegsende 1945 gründete er voller Enthusiasmus zusammen mit Gleichgesinnten die Zeitung „Mladá fronta“(„Junge Front“) und schloss sich der jungen Künstlergruppe um dieses Blatt an. 1947 war Listopad als Vertreter seines Landes im Kulturbereich nach Paris gegangen. Als nach dem Februarumsturz 1948 die kommunistische Partei die Herrschaft in seiner Heimat übernahm, kehrte er nicht mehr in die Tschechoslowakei zurück.
Das Schicksal hatte František Listopad nach Lissabon verschlagen, wo er zunächst beim Fernsehen arbeitete. Später wurde er Direktor der Theater- und Filmhochschule in Lissabon und wirkte zudem in mehreren europäischen Ländern als Dramaturg. Auf tschechischen Bühnen konnte Listopad erst nach der Samtenen Revolution im November 1989 wieder arbeiten.
Obwohl sich František Listopad nicht im eigentlichen Sinne als Schriftsteller empfindet, hatte er Zeit seines Lebens Gedichte, Prosa und Essays entweder auf Portugiesisch oder in kleinen tschechischen Exilverlagen veröffentlicht.
Neben der vorliegenden deutschen Erstausgabe von „Die Erde ist Kohle und Zitronen“ übertrug Eduard Schreiber bereits František Listopads Bände „Jahrmarkt Böhmen“ (2008) sowie „Tristan oder der Tod des Intellektuellen“ (2010) in vorzüglicher Weise. Ein mitgeliefertes Nachwort sowie ein behutsamer Anmerkungsapparat belegen die gewohnt sorgfältige Herausgeber- und Übersetzertätigkeit Schreibers.
„Die Erde ist Kohle und Zitronen“ bilden vier Gesänge, die dem 2012 in Prag erschienenen Gedichtband „Soukromý západy slunce“ („Privater Sonnenuntergang“) entnommen sind. Auch in diesen Langedichten Listopads zeigt sich, wie biographische Erlebnisse Eingang in seine Dichtung fanden: „ohne Philosophie beunruhigt uns / dass wir ohne Gott leben können / das sind keine Verse das sind Erfahrungen“.
Listopads Lyrik ist nicht unmittelbar zugänglich. Farben, Bilder, Gerüche, Gefühle, aber auch entfernte Erinnerungen und vage Ahnungen verbinden sich zu einem artifiziellen Gemisch, dem sich der Leser am besten mit langem Atem und ohne viele Fragen anvertraut. Seine poetische Vermischung von Erlebtem, Erträumten und Ersehntem zieht den Leser in einen von Assoziationen angereicherten Strudel.
Im ersten Gesang brodeln Erinnerungen an eine Kindheit in Böhmen, aber auch die Erfahrung akuter Bedrohung und Vernichtung, der sich damals seine Familie ausgesetzt sah: „es bleibt nicht mehr viel Zeit deshalb ergreife ich / um jeden Preis die Feder dem Chaos zu entkommen“.
Das Exil in Westeuropa öffnet neue Chancen und zugleich neue Bilder poetischer Wahrnehmung, die sich im zweiten Gesang sammeln: „Zufall der Worte Rätsel der Orte / nur Wissenschaft vom Unbekannten Die uns / am Leben hält Nichts anderes / nach Heraklit alles fließt“. Im dritten Gesang weicht Listopad von der reinen Lyrik ab und verlagert seine Verdichtungen in eine lyrische Prosa unter dem Titel „Ungesang mit Blumen“. Hier ergänzen sich topographische Orte wie der Strossmayer-Platz in Prag mit erotisch angereicherten Erinnerungen an Südfrankreich. Ein grauer Alltag in der Fremde lässt Erinnerungen an das Land seiner Herkunft wieder heraufsteigen. Im vierten Gesang werden Listopads Fähigkeiten in der Beherrschung poetischer Mittel, wie der Einsatz von Assoziationen oder Wortspielen, in gesteigerter Dichte unter Beweis gestellt. In geradezu beunruhigender Form sieht sich das gereifte Leben vor offenen und unerklärlichen Fragen, „verlangsamte sich mein Schritt und die Welt beschleunigte sich / Aus dem Fenster siehst du verspätete Laute / Wild grollen die Donner“.
Langgedichte haben in der tschechischen Poesie vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre besondere Tradition. Nur ein Bruchteil der von so bedeutenden Dichtern wie Vladimír Holan, Vítězslav Nezval oder Vilém Závada verfassten Werke ist bislang ins Deutsche übersetzt worden.
Eduard Schreiber hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem deutschsprachigen Lesepublikum längst überfällige Stimmen tschechischer Dichter nahezubringen. Neben dem aufschlussreichen Gesprächsband mit dem tschechischen Germanisten Eduard Goldstücker „Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts“ (2009) hat Schreiber unter anderem auch Textsammlungen von Ludvík Kundera oder Emil Juliš übersetzt und herausgegeben.
Auszug aus „1. Gesang“:
„Ich möchte diese Welt beschreiben
wie Cezanne blaugrüne Bäume
malte Die Lust ins Paradies zu kommen
in Träumen Worte auch in der Schale nicht zu verlieren
nichts ist so tschechisch wie sie
auch wenn dieses stille Morgendeutsch
hinter Krügen, Kesseln, dem hölzernen Besteck
früher da war als das Wort Shoa
als an den Grenzen noch Schnee lag
Krokusse im Schnee Mísečky Volský Důl
es bleibt nicht mehr viel Zeit deshalb ergreife ich
um jeden Preis die Feder dem Chaos zu entkommen“
Auszug aus „3. Ungesang mit Blumen“
„Man fragte das Kind: wie sprechen die Fische?
Das Kind fing an Bartók zu singen
Ein Jahrhundert lang ist die hundertblättrige Rose Rose
Ich gewann ein Pingpongturnier
Gewann den Wettbewerb um das schönste Gedicht
Über die Rose dann begann ich alles zu verlieren
Wir erdichten die Leben ich und du“
František Listopad: „Die Erde ist Kohle und Zitronen“. Aus dem Tschechischen und mit einem Nachwort versehen von Eduard Schreiber (Radonitzer). Hochroth Verlag, Berlin 2014. 39 Seiten,
6 Euro, ISBN 978-3-902871-49-7
„Markus von Liberec“
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