Holland in der Nussschale

Holland in  der Nussschale

Warum sehen manche Vorstadtsiedlungen in Prag so aus wie in den Niederlanden? Ein Spaziergang durch Ořechovka

22. 10. 2014 - Text: Peter HuchText und Foto: Peter Huch

In der Straße Na Ořechovce verdeckt ein greller Wahlkampfbus die Sicht auf ein Gebäude, das einen ganz eigenen Teil der Prager Geschichte zu erzählen weiß: ein altes Kino, das seine beste Zeit schon hinter sich hat. Es liegt fern von allen touristischen Zielen, in einem Viertel, das mit der Straßenbahn schwer zu erreichen ist. Die sonst so beschauliche Ruhe an einem Samstagnachmittag wird übertönt durch das laute Röhren eines Stromgenerators, mit dem die Partei das Viertel mit Pop-Musik beschallt. Das graue Wetter passt zum mittlerweile eher traurigen Anblick des Gebäudes.

Das Viertel Ořechovka ist ein Teil von Střešovice, gelegen zwischen den U-Bahn-Stationen Hradčanská und Dejvice. Es ist Ergebnis der enthusiastischen Aufbruchstimmung, die die Tschechen und Slowaken in den Monaten nach dem Ersten Weltkrieg erfasste, als Prag für Millionen die Hauptstadt der neuen Republik wurde. Bei aller Euphorie entstanden aber auch praktische Probleme: „Prag wuchs in alle Richtungen und die Metropole brauchte auf einmal viele neue repräsentative Gebäude und Residenzen“, erklärt die Architekturhistorikerin Vendula Hnídková bei einem Stadtspaziergang, „denn auch der entstehenden Mittelklasse sollten neue Viertel geboten werden“.

Platz für neue Villen fanden die städtischen Angestellten im damaligen Hinterland, so auch in Střešovice. Ořechovka hat sich somit nicht im Laufe der Zeit entwickelt, sondern wurde gleich 1919 am Reißbrett entworfen. Auftraggeber war die städtische Baugesellschaft. „Neben Reihenhäusern wollte man Mehrfamilienhäuser mit Ein- und Vierzimmerwohnungen sowie freistehende Wohngebäude schaffen“, erläutert Hnídková. Das sollte ein abwechslungsreiches Stadtbild schaffen. Abwechslung entstand auch durch die Auftragsvergabe an zahlreiche unterschiedliche Architekten, so flossen viele Ideen in das Viertel.

Der Name Ořechovka erinnert im Tschechischen an das Wort „Ořech“ (deutsch: „Nuss“) und ist der gebräuchliche Name eines beliebten Likörs. Das Konzept für das Viertel erstellten die Architekten Jaroslav Vondrák und Jan Šenkýř. Sie hatten ein „ganzheitliches, das ganze Leben umfassende, Konzept im Kopf“, das nicht nur Häuserbau beinhaltete, so die Architekturführerin. Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens sollte das Kino werden, das auch als Tanzsaal diente. Vor dem Kino erstreckt sich ein Park mit Tennisanlage. Die zwei parallel verlaufenden Hauptstraßen und der hohe Anteil an Grünflächen im Viertel sind typisch für diese Zeit, ebenso die Idee der relativ abgeschlossenen Vorstadtsiedlungen.

Die Natur dominiert das Bild des gesamten Quartiers noch heute. Das beginnt mit bunten Blumenkübeln, die an den Straßenlaternen befestigt sind, und endet bei kleinen privaten Gartenparzellen. Diese private Gartenkolonie war damals eine Reaktion auf die Industrialisierung, die Bürger wollten auch in der Stadt das Verweilen in der Natur ermöglicht haben. Die rund 7.000 Einwohner dürfen sich auch heute noch am Anblick der Natur erfreuen – und an den vielen architektonischen Kleinodien.

Internationaler Patriotismus
Ořechovka entstand aus einem bourgeoisen Lebensgefühl heraus. Während andere Vorstadtsiedlungen dieser Zeit, wie das Arbeiterviertel der Baťa-Werke in Zlín aus einheitlichen, hundertfach duplizierten Einfamilienhäusern bestanden, gibt die Vielfalt der Siedlung Ořechovka Besuchern auch heute noch das Gefühl, in wenigen Metern weite Teile der europäischen Architekturgeschichte entdecken zu können. Die viel gereisten Planer des Viertels orientierten sich an internationalen Ideen: Aus den Niederlanden nutzten sie sowohl Klinkersteine als auch den Funktionalismus. Niederländischen Einfluss brachte auch der Architekt Pavel Janák ein, der als Erbauer des Krematoriums in Pardubice bekannt wurde. Er studierte in den Niederlanden und kehrte zurück mit einer Vorstellung künftiger Häuserreihen, gebaut aus roten Ziegelsteinen, genau wie in den Niederlanden. Ansonsten dominieren vielfach englische Ideen den Baustil. Kaum verwunderlich: „Englische Gartenstädte dienten den Planern als Hauptinspiration“, so die Historikerin Hnídková.

Die Namen der Auftraggeber für die Villen lesen sich wie ein illustres Lexikon der Künstler der Ersten Tschechoslowakischen Republik: Der Steinhauer Bohumil Kafka fand hier ebenso ein Zuhause wie der Philosoph Jaroslav Krejčí oder der Maler Václav Špála. Einer der Höhepunkte des Viertels ist die Villa des Architekten Jaroslav Vondrák. Das Gebäude wirkt auf den ersten Blick seltsam. „Das liegt an der asymmetrischen Komposition“, spricht die Kennerin aus, was der Laie nicht erklären kann. Durch das Aufeinanderschichten dreier unterschiedlicher Ebenen fällt es schwer, einen Mittelpunkt der Villa auszumachen.

Unweit von Vondráks Villa wurde mit der Linhart-Villa das erste funktionalistische Wohnhaus der Ersten Republik gebaut. Da mit dem eigenen Staat auch patriotische Gefühle erstarkten, suchten die Architekten nach einem eigenen, nur den Tschechen eigenen Stil. Sie fanden ihn im Rondokubismus, der sich durch ungewöhnliche Formen wie Pyramiden, Halbbögen und Würfel auszeichnet. Die Nationalfarben waren ein probates Mittel, Nationalstolz an den Fassaden auszudrücken.

Es liegen auch heute noch mehrere Gedanken der Gründungsväter der Siedlung in der Luft, einer von ihnen ist der Internationalismus: Was mit der Verwirklichung englischer Ideen begann, setzt sich nun zumindest im kleineren Rahmen fort, mit einer Pizzeria und einer mexikanischen Bar in dem Haupthaus des Viertels. Die andere Seite ist die Exklusivität des Geldes: Einen Steinwurf entfernt entstehen nun, knapp hundert Jahre nach der Errichtung des Viertels, wieder luxuriöse Wohneinheiten, deren Rohbauten den Geist des Funktionalismus versprühen.

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