Geworfen in die Bodenlosigkeit

Vilém Flussers Theorien über Sprache und Kommunikation bieten noch heute viele Anknüpfungspunkte. Der Verlust der Prager Heimat spielte eine bedeutende Rolle in seinem Denken
31. 8. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Fotos: ZKM Karlsruhe und chensiyuan/CC BY-SA 4.0
Geboren wurde Vilém Flusser 1920 in einer Stadt, in der ein Einzelner vieles sein konnte. Flusser war deutschsprachiger Jude, Marxist, Philosoph – vor allem aber war er Prager. Was das zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutete? „Man war geborener Internationalist, denn man fühlte am eigenen Dasein die Lächerlichkeit, scharfe Unterschiede zwischen Völkern zu machen“, erinnert sich Flusser in seiner Autobiographie „Bodenlos“. Egal ob Tschechen, Deutsche oder Juden, ob Katholiken, Protestanten oder Marxisten, ob Bürger oder Proletarier – für alle war Prag „der Boden, auf dem sich alle anderen Fragen stellten“. Ein Ort, an dem es selbstverständlich war, zwei Muttersprachen zu haben und sich so ständig unbewusst zwischen zwei Welten zu bewegen, einer west- und einer osteuropäischen. Ein Ort, der seinen Bewohnern einen Stempel aufdrückte, wie Flusser schreibt. Man liest den Schmerz mit, den ihm das Ende dieses Prager Lebens bereitete.
Der Prager Boden wurde Flusser jäh entzogen, als sich die Nationalsozialisten aufmachten, seine Welt zu zerstören. Der damals erst 19-Jährige floh 1938 über England nach Brasilien. 30 Jahre verbrachte er in Lateinamerika, später lebte er in Italien, der Schweiz und Frankreich. Flusser wurde prominenter Medientheoretiker und die Kommunikation sein Lebensthema. „Ich sah und sehe in der menschlichen Kommunikation den immer wieder scheiternden Versuch, über die Abgründe zwischen den Menschen und den menschlichen Gruppen Brücken zu schlagen“, sagte er einmal in einem Vortrag.
Brücken schlagen, Fäden spinnen, das Flechten von Verbindungen – solche Begrifflichkeiten finden sich in Flussers philosophischer Autobiographie zuhauf. In seinen Medientheorien spiegelt sich diese Sicht auf die Welt. Bereits in den achtziger Jahren prophezeit er digitale soziale Netzwerke. Man könnte sagen: Flusser hat Facebook vorausgeahnt.
In seinem ganzen Denken setzte er sich mit der Bodenlosigkeit auseinander, die mit dem Verlust seiner Prager Heimat, ihrer Sprache und Kultur einherging. „Das Provinzielle an Prag, seine Enge, war für einen durch seine Tiefe verhüllt, und man glaubte sich im Zentrum des Weltalls. Eben das ist ein Symptom der Verwurzelung: sich selbst im Zentrum der Welt zu sehen. Zwar wusste man selbstverständlich, dass dieses Zentrum bedroht war: kurzfristig durch die Nazibarbarei, die immer näher an die Tore Prags heranrückte, und langfristig durch die tiefgreifenden Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft überhaupt, die ganz Europa in Frage stellten und einen Anachronismus wie Prag nicht zulassen konnten. Man wusste davon, aber konnte es existenziell nicht zur Kenntnis nehmen. Prag, das war die Wirklichkeit, und wie kann die Wirklichkeit verschwinden?“
Flusser wurde Zeuge davon, wie seine Realität langsam bröckelte und stückweise in einen Abgrund fiel. So verlor er auch seine Identität als Prager. Auf einmal war Flusser Jude, und zwar einer, der sich dazu entschlossen hatte, vor den Nationalsozialisten zu fliehen, um sein Leben zu retten. Eine Entscheidung, die er als Verrat am Schicksal verstand, und die ihn „in den gähnenden Abgrund der Sinnlosigkeit“ warf. Seine Familie ermordeten die Nazis in den Konzentrationslagern. Für Vilém Flusser begann 1938 ein Leben in der Bodenlosigkeit. Prag war gestorben. „Von jetzt ab war alles möglich. In diese grenzenlose Möglichkeit stürzte man, zwar blutenden Herzens, aber aufgeschlossenen Geistes.“
Flussers Prager Boden setzte sich nicht nur aus Familie, Tradition und seiner sozialen Stellung zusammen – Hauptnährstoffe waren für ihn Kultur, sein Philosophiestudium und das Schreiben. Essentiell für all das war die Sprache. Sich ohne sie in einer Kultur zu engagieren oder gar heimisch zu werden – unmöglich. Flusser lernte Portugiesisch, auch mit dem Ziel, brasilianischer Schriftsteller zu werden. Später lehrte er Kommunikationstheorie an der Universität von São Paulo und verfasste Bücher in der Fremdsprache.
Bezugspunkte blieben für ihn aber immer das Deutsche und das Tschechische. Es war ihm ein Anliegen, auf Deutsch zu schreiben, „um diese Sprache mit tschechischen Elementen zu bereichern und vor der Barbarisierung durch die Nazis zu retten“. Das Schreiben sah Flusser als „Engagement an der Veränderung der Welt“. Mit seinen Theorien wollte er die Kommunikation zwischen den Menschen verändern und verbessern.
Existenzielle Freiheit
Dass Flusser auch bereit war, sich selbst im Gespräch mit anderen zu entwickeln, zeigt der Hauptteil seiner Biographie, der der Beschreibung von Dialogen mit Freunden vorbehalten ist. Über seine Zeit mit Dichterinnen, Malern und Philosophen machte er sich Gedanken, die eine ungefilterte Nähe und menschliche Auseinandersetzung beweisen.
Flussers Reflexionen über Wurzeln und Migration wären eine lohnenswerte Lektüre für viele AfD-Wähler und alle, die ihre eigene Sesshaftigkeit als Wert begreifen, den sie Heimat oder Vaterland nennen. Die Vertreibung aus Prag erlebte Flusser zwar als schmerzhaft, sie eröffnete ihm aber auch eine existenzielle Freiheit. Aus der Distanz wurden ihm seine Vorurteile bewusst, „jene Urteile, die vor allen bewussten Urteilen getroffen werden“. Sie entspringen einem gemütlichen Dunst, wie er schreibt, einem „geheimnisvollen Gefesseltsein“ an Dinge.
Das Wort „svičková“ („Lendenbraten“) rief in Flusser bis ins Alter Gefühle hervor, die für ihn schwer zu analysieren waren. Man könnte sie Heimweh nennen. Das Überwinden der Heimat macht laut Flusser freies Urteilen, Entscheiden und Handeln möglich. Der Migration wohne eine schöpferische Kraft inne. Man suche sich seine Fesseln selbst, nachdem man sich von denen, die einem ursprünglich angelegt wurden, befreit habe oder ihnen, wie in seinem Fall, gewaltsam entrissen wurde.
Prag verfolgte den Philosophen und Medientheoretiker dennoch zeitlebens. Seine Biographie schließt mit dem Kapitel „Mein Prager Pfad“. Es beschreibt seinen alten Schulweg, den er 1990 noch einmal abging, von Dejvice nach Smíchov. Er sieht die barocke Pracht auf der Kleinseite aber auch die bröckelnden Fassaden. Die 52 vergangenen Jahre kommen ihm wie Jahrhunderte vor; dennoch erkennt Flusser den Boden, dem er einst entrissen worden war. „Was ich jetzt als alter Mann atemlos durchschreite, um mich selbst wiederzufinden, ist das namenlose Unheil, das das 20. Jahrhundert über die großartige Bühne Prag hat ergehen lassen: jenes Unheil, aus dem ich gemacht bin.“ Und nachdem er in vier Ländern und ebenso vielen Sprachen heimisch geworden war, wurde Prag Flusser schließlich doch noch zum Verhängnis. 1991 starb er auf dem Rückweg von einem Vortrag im Goethe-Institut bei einem Autounfall kurz vor der deutschen Grenze.
Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Bollmann, Düsseldorf 1992, 295 Seiten, ISBN 3-927901-19-9
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?