Gelungene Modelle tieferer Wirklichkeiten

Gelungene Modelle tieferer Wirklichkeiten

Die humorvolle und abgründige Prosa „Die erbeuteten Frauen“ von Johannes Urzidil ist neu aufgelegt worden

3. 7. 2013 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel

 

Der vorliegende Band enthält „Sieben dramatische Geschichten“, die einen nachhaltigen Einblick in die verblüffende sprachliche Kraft des Erzählwerks von Johannes Urzidil (1896–1970) gewähren. Da gerade in den erzählenden Texten von Johannes Urzidil immer auch eigenes Erleben einfließt, ist für Spannung und überraschende Wendungen gesorgt. Der Weltbürger Urzidil hat seine mitteleuropäische Prägung nie verleugnet.

In Prag geboren veröffentlichte Urzidil bereits als junger Mann in seiner Heimatstadt Gedichte, Erzählungen und Essays. Sein deutschnationaler Vater und seine tschechische Mutter, die als Jüdin zum Katholizismus konvertierte, spiegelten das damalige Bild einer Metropole, in welcher alte Kulturen unter anderem auch deswegen nebeneinander existieren konnten, da sie voneinander profitierten. Urzidil bewegte sich in diesen Welten wie ein Fisch im Wasser. Dass er auch Widersprüche und Fehlentwicklungen erkannt und klar benannt hatte, macht ihn umso glaubwürdiger. Die widerrechtliche Besetzung der sogenannten Rest-Tschechei am 15. März 1939 durch die Deutsche Wehrmacht beendete gewaltsam diese über Jahrhunderte gewachsene Welt, zumal sie einen zivilisationsfernen Rassenwahn im Sturmgepäck trug. Mit knapper Not entkam Urzidil mit seiner jüdischen Frau Gertrude den neuen Machthabern und landete nach abenteuerlichen Umwegen 1941 in den USA. In New York bezogen sie ihren endgültigen Wohnsitz.

Phantastische Sphären
Motive, Figuren und Begebenheiten aus dem Leben des Johannes Urzidil finden sich in seinen Erzählungen wieder. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Erzählungen „Die erbeuteten Frauen“ in der Antike, „Der Stahlpalast“ in den USA, „Die Rippe der Großmutter“ in Böhmen oder „Das Haus Colonna“ in Italien angesiedelt sind. List und Verrat aber auch Treue und Lebenserfahrung sind letztlich zeitlos. Johannes Urzidil vermag es in meisterhafter Weise, existentielle Herausforderungen für den einzelnen Menschen in ihrer ganzen Dramatik herauszuschälen.

Besonders eindrucksvoll gelingt ihm dies in der Erzählung „Die Herzogin von Albanera“, wo ein blasser Prager Bankbeamter seinen trostlosen Alltag erstmals in der Begegnung mit der Herzogin von Albanera einer fundamentalen Änderung aussetzt. Allerdings ist diese Herzogin Eleonora lediglich ein Gemälde. Und noch dazu ein vom Bankbeamten, wenn auch ohne Vorsatz, persönlich gestohlenes Gemälde – war es schließlich Liebe auf den ersten Blick! Im Schutze seiner einfachen Wohnung führt er Dialoge mit dieser Herzogin und sucht sie zu überreden, sich mit ihrem neuen Standort zufrieden zu geben: „Wir alle leben ja, möchte ich sagen, vorerst als Modelle tieferer Wirklichkeiten, obschon nicht jeder das Glück hat, sich dessen bewusst zu werden“.

So sehr Urzidil sein Erzählen im realistischen Milieu entfaltet, so subtil sind fein angelegte Stränge, die den Alltagsrahmen überschreiten und in die phantastischen Sphären einer übergeordneten Welt ausweichen. Phantasie und Wirklichkeiten gehören bei Urzidil zusammen. Sie sind in einer organischen Weise ineinander verwoben, dass sie nicht wie aufoktroyierte Fremdkörper wirken.

„So stirbt man nicht!“
In „Morgenroths Erbe“ erbt Dilly ein Karussell, das aus zwölf handgeschnitzten hölzernen Pferden besteht. Ein wunderschönes Ringelspiel, wie aus dem Leben herausgeschnitten. Der Betreiber pflegt eine innige persönliche Beziehung zu seinen Pferdchen und auch die Kinder sind glücklich mit dieser Anlage. Podbielski, ein guter Freund von Dilly, ist nicht zufrieden. Ihm ist das Ganze nicht modern genug, schließlich muss man mit der Zeit gehen!

Immer wieder versucht er, Dilly zur Aufgabe dieses Karussells zu bewegen. In der Tat: Die Zeiten ändern sich und das Geschäft will nicht mehr so recht laufen. Als Podbielski seine große Stunde kommen sieht, schwingt sich Dilly auf sein hölzernes Lieblingspferd Polydor. „Wie er in den Flanken zittert, als er seinen Herren spürt! Großartig bäumt er sich, und seine Mähne flattert wie in einer Rittergeschichte. An ihm ist ja auch bisher nichts abgebrochen, und als ich ihn unlängst neu lackierte, tat ich es nicht mit Resten alter halbgeleerter Farbentöpfe, sondern malte ihn wieder rappenschwarz, wie es sich gehört. Ich ließ nur die Weiße der Zähne blinken und die des Augapfels“. Schneller und immer schneller drehten sich die Pferdlein und sehr zum massiven Ärger Podbielskis brachen sie schließlich aus und hoben ab. Dilly schimpfte Podbielski noch einen „Fortschrittsspießer“ und Podbielski hält trotzig dagegen: „So lebt man nicht! So stirbt man nicht!“. Aus der sich unaufhaltsam in die Höhe schraubenden Kreiselbewegung schallte eine letzte Erwiderung, die wie ein Urzidilsches Menetekel gedeutet werden kann: „Irrtum! So lebt man! So stirbt man!“

Johannes Urzidil: „Die erbeueten Frauen. Sieben dramatische Geschichten“, Elsinor Verlag, Coesfeld 2013, 186 Seiten, 16,80 Euro, ISBN 978-3-942788-13-7