Frei bis zuletzt

Frei bis zuletzt

Vor 70 Jahren starb die Prager Journalistin Milena Jesenská im Konzentrationslager Ravensbrück. Trotz aller Erniedrigungen ist sie ihren Prinzipien stets treu geblieben

14. 5. 2014 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: APZ

„Am Nachmittag des 15. Mai überbringt man mir während der Arbeitszeit die Nachricht, Milena liege im Sterben. Ich zögere keine Minute und verlasse ganz einfach den Arbeitsplatz. (…) Die Sterbende liegt in Euphorie. Ihr Gesicht strahlt, die Augen glänzend und dunkelblau, (…) sie kann nicht mehr sprechen. Aus dem Lager kommen die tschechischen Freunde, (…) und voller Glückseligkeit blickt Milena auf alle, nimmt Abschied vom Leben. Am Abend verliert sie das Bewußtsein. Der Todeskampf dauert bis zum 17. Mai. Erst dann schleiche ich in die Baracke zurück. Für mich hat das Leben seinen Sinn verloren.“ Das schrieb Margarete Buber-Neumann, Milena Jesenskás Mitgefangene sowie engste Vertraute während der letzten Jahre im Konzentrationslager Ravensbrück, in ihrer 1963 erschienenen Biographie „Kafkas Freundin Milena“.

Diese Biographie belegt zwar eindrucksvoll, dass Milena es nicht bloß als Fußnote in Kafkas Leben verdient hat, ihrer zu gedenken. Doch war es damals notwendig, wenigstens im Titel die Beziehung zu Kafka aufscheinen zu lassen, um das Interesse des Lesers zu wecken. Milena Jesenská, ihr bewegtes Leben, ihre bewundernswerten Leistungen als Journalistin, unerschrockene Widerstandskämpferin und schließlich ihr Mut und ihre Opferbereitschaft für andere waren noch kein selbständiger Begriff. Auch Buber-Neumanns Biographie lässt viele Wünsche offen, da die Autorin weder Prag und Böhmen kannte noch Zugang zu Milenas journalistischem Werk hatte. Der Wert ihres Buches liegt vor allem in der Unmittelbarkeit der Schilderung ihrer Erlebnisse in Ravensbrück sowie der Tapferkeit und Menschlichkeit Milenas trotz der Allgegenwart von Leid, Gemeinheit, Erniedrigung und Tod.

Das änderte sich erst seit Mitte der achtziger Jahre mit der Herausgabe von Milenas zahlreichen Feuilletons, politischen Artikeln und Briefen sowie mit einer Reihe von Biographien, unter denen diejenige von Alena Wagnerová (deutsch 1994; tschechisch 1996) herausragt. Reiner Stach sagt in seiner großen Kafka-Biographie treffend, erst jetzt gebe „es eine Vorstellung davon, welches Schicksal damals Kafkas Weg gekreuzt hat. Sie war – anders als Felice Bauer, anders als Julie Wohryzek – die Stärkere. Dass er sich auf ihren Lebensentwurf hätte einlassen, dem Menschen Milena sich hätte anschließen können, ist denkbar; dass sie in seine Welt ihm folgte, jedoch nicht. Das hat sie gewusst, und sie hat es begründet.“ Die Begründung findet sich in einem Brief Milenas an Max Brod (1921): „(…) vielleicht war ich zu sehr Weib, um die Kraft zu haben, mich diesem Leben zu unterwerfen, von dem ich wusste, dass es strengste Askese bedeuten würde, auf Lebenszeit.“

Ergreifende Lektüre

Unterwerfung war freilich Milenas Sache nie. Nicht, als ihr Vater die Heirat mit Ernst Pollak, einem deutsch-jüdischen „Literaten ohne Werk“ (Hartmut Binder), verhindern wollte und sie deshalb für einige Monate in eine psychiatrische Anstalt sperren ließ. Nicht, als sie sich nach kurzer Mitgliedschaft von der kommunistischen Partei wegen Stalins Verbrechen wieder lossagte. Nicht, als die Nazis ihr Land besetzten und sie unter Einsatz ihres Lebens rassisch und politisch Verfolgten zur Flucht verhalf und für eine Widerstandszeitung schrieb. Und auch nicht, als sie krank und geschwächt im KZ Ravensbrück entgegen aller Regel als „ein Mensch mit noch ungebrochenem Selbstbewußtsein, ein freier Mensch inmitten all der erniedrigten“ (Buber-Neumann) auftrat und anderen Stütze war.

Milena wurde im November 1939 verraten und von der Gestapo in ihrer letzten Wohnung im Prager Stadtteil Vinohrady festgenommen. Vom Gericht in Dresden wurde sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen, aber dann von der Prager Staatspolizei in „Schutzhaft“ genommen und schließlich im Herbst 1940 nach Ravensbrück verbracht, durch die Haftbedingungen gesundheitlich stark mitgenommen. Erst im vergangenen Jahr sind durch glückliche Umstände 14 von Milena in der Haftzeit verfasste Briefe, davon sieben aus Ravensbrück, wieder aufgetaucht; Alena Wagnerová hat sie veröffentlicht und kommentiert.

Es ist ergreifend zu lesen, wie Milena trotz ihrer eigenen verzweifelten Lage und ihrer sich verschlimmernden Krankheit alle Gedanken und Sorgen ihrer Tochter Jana und ihrem Vater zuwendet. An Letzteren richtet sie die Worte: „Du ahnst nicht, was mir Deine zärtlichen Worte bedeuten. Sie machen mich ganz glücklich, schicke mir, bitte, bald wieder welche.“ Und „(…) sollte mir etwas zustoßen, kannst Du wissen, dass ich bis zum letzten Augenblick mit Euch war und dass ich mir schwache Minuten überhaupt nicht gestattete, weil ich eben an Euch denke.“

„Gerechte unter den Völkern“

Von ihren kommunistischen Mitgefangenen wurde Milena geschnitten und drangsaliert. Sie schloss enge Freundschaft mit „Grete“ Buber-Neumann. Diese war 1935 mit ihrem Mann, dem KPD-Funktionär Heinz Neumann, nach Moskau emigriert, wo beide in Haft kamen. Während ihr Mann hingerichtet wurde, geriet Grete zunächst in ein Straflager, wurde aber 1940 von Stalin an die Nazis ausgeliefert. Dass Milena der Deutschen glaubte und vertraute, warfen sie ihr vor. Nach dem Kriege setzte sich die Ächtung fort. Ein 1960 in Prag erschienenes Buch mit Erinnerungen ehemaliger Häftlinge ordnet Milena einem Kreis von Trotzkistinnen zu, deren falsche Ansichten im Lager „äußerst scharf zu bekämpfen waren“. In einer zweiten Auflage von 1963 war dieser Absatz gestrichen, der Name Milena Jesenská tauchte nicht mehr auf.

1995 verlieh Israel Milena Jesenská und Joachim von Zedwitz (er half Milena 1939 bei der Organisation von Fluchtmöglichkeiten für Verfolgte) den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“; von Zedwitz, der Haft und Krieg überlebt hatte, erhielt die Auszeichnung vom israelischen Botschafter in Prag überreicht, für Milena nahm ihr Enkel Jan Černý die Auszeichnung entgegen. Seit Juli 2013 erinnert ein Stolperstein vor dem Haus in Prag–Vinohrady (Kouřimská 6) an Milena. Im Talmud heißt es: „Die Gerechten unter den Völkern haben einen Platz in der kommenden Welt.“