Entgegen den Gepflogenheiten

Entgegen den Gepflogenheiten

Jaroslav Šedivý bringt seine Erinnerungen zu Papier und blickt zurück auf eine ereignisreiche Geschichte

15. 5. 2013 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: Verlag Lidové noviny

Im Sommer 1935 trafen sich in der Wohnung der Familie eines jungen Mathematiklehrers im südböhmischen Städtchen Mirotice, unweit der Kreisstadt Písek, Mitglieder des Kreisausschusses der Sozialdemokraten. Mit dem Lehrer wollten sie über das Vorgehen beim Streik der Arbeiter beraten, die in den Steinbrüchen von Kozárovice beschäftigt waren. Diese etwas weiter nördlich gelegenen Steinbrüche gehörten verschiedenen Firmen: Eine davon gehörte Karel Schwarzenberg, dem Vater des heutigen tschechischen Außenministers, eine andere aus Prag mit dem Namen „Syenit“ war im Besitz der Kommunistischen Partei. Mit ihrem Streik wehrten sich die Arbeiter gegen die Bedingungen eines neuen Tarifvertrags; erst nach sechs Wochen konnten sie sich durchsetzen. Pikanterweise war es nicht die kommunistische Firma „Syenit“, die den Forderungen der Arbeiter nachgab, sondern den Ausschlag gab das Unternehmen von Karel Schwarzenberg.

Knapp zehn Jahre später, Anfang Mai 1945 – in Prag war gerade der Aufstand gegen die deutsche Besatzung ausgebrochen – ergriffen die wehrfähigen Männer auch in der Gegend um Písek die Initiative, dem Zurückweichen der deutschen Wehrmacht nachzuhelfen. Erneut trat Karel Schwarzenberg in Erscheinung, dem es gelang, einen erbeuteten Panzer wieder in Gang zu setzen und auf diese Weise die tschechische Seite zu stärken.

Dies, und vieles mehr, ist den kürzlich erschienenen Erinnerungen von Jaroslav Šedivý „Mé putování zmateným stoletím“ (etwa: „Meine Wanderung durch ein verworrenes Jahrhundert“) zu entnehmen. Diejenigen, die neulich in der Endphase des Präsidentschaftswahlkampfes meinten, die Republiktreue der Vorfahren des Kandidaten Schwarzenberg überprüfen zu müssen, hätten hier fündig werden können, doch diese Begebenheiten passten wohl nicht ins vorgefasste Schema. Jener Mathematiklehrer in Mirotice war übrigens der Vater von Jaroslav Šedivý, der selbst damals als kleiner Bub um den Tisch schlich und später Hintergründe und Ergebnisse des Streiks in einem Aufsatz zur Zeitgeschichte aufarbeitete.

Geistreiche Erzählkunst
Jaroslav Šedivý wurde im November 1929 geboren, trat Anfang 1948 – von seinem linksorientierten Vater ebenso beeinflusst wie durch die jüngste Geschichte seit dem Münchner Abkommen – der KSČ bei, studierte Geschichte, befasste sich als Historiker besonders mit außenpolitischen Themen, verlor nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings und Parteiausschluss zunächst Arbeitsstelle und Publikationsmöglichkeiten, dann auch seine persönliche Freiheit durch eine halbjährige Inhaftierung in Prag und musste von Ende 1971 bis Anfang 1989 den Lebensunterhalt seiner Familie als Fensterputzer verdienen (im Buch als „längste Beschäftigung meines Lebens“ apostrophiert). Nach der Wende sicherten sich das Bürgerforum und die Regierung zunächst seine Mitwirkung bei der Konzeption einer neuen Außenpolitik und dann seine Dienste als Botschafter in Paris, Brüssel und Bern, unterbrochen von einigen Monaten 1997/98, in denen Šedivý Außenminister der Tschechischen Republik war.

Seit seinem Studium entfaltete Šedivý eine umfangreiche Publikationstätigkeit (in den Jahren der „Normalisierung“ unter Pseudonymen). Nach drei eher auf seine offizielle Tätigkeit orientierten Büchern über seine Zeit als Botschafter und Außenminister, hat Šedivý nun seine Lebenserinnerungen vorgelegt – ein Werk ebenso reich an Erfahrungen aus guten und schlechten Zeiten wie an farbigen Schilderungen interessanter Begebenheiten, von denen viele mit überraschenden Pointen enden. Šedivý ist nicht nur ein begnadeter Erzähler, wenn er sich an den Schreibtisch setzt, sondern er fesselt seine Zuhörer auch mit seinem mündlichen Vortrag. Dies hat er vergangene Woche wieder bewiesen, als er bei einer Veranstaltung der Monatsschrift „Dějiny a současnost“ („Geschichte und Gegenwart“) und seines Verlags das neue Buch vorstellte, wobei er einige der darin geschilderten Geschichten zum Besten gab.

Geschickter Schachzug
Im Januar 1997 hatten Václav Klaus und Helmut Kohl die deutsch-tschechische Erklärung unterschrieben. Bei seinem Antritt als Außenminister Anfang November 1997 fand Šedivý als eine der Hinterlassenschaften seines Vorgängers die Aufgabe vor, auf der Grundlage dieser Deklaration den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds zu gründen und vor allem dessen Verwaltungsrat zu berufen. Darin hatten sich in den Monaten zuvor Bundesaußenminister Klaus Kinkel und Šedivýs Vorgänger Josef Zieleniec verfangen. Das Hauptproblem hatte die deutsche Seite selbst geschaffen, indem sie zwei prominente und für die tschechische Seite absehbar nicht akzeptable Vertreter der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) für den Verwaltungsrat des Zukunftsfonds nominiert hatte: Franz Neubauer, Vorsitzender der SL, und dessen Stellvertreter Fritz Wittmann. Hinzu kam, dass Kohl wegen der anstehenden Bundestagswahlen im Herbst 1998 kein Interesse hatte, durch eine Kompromisslösung doch noch den vereinbarten Termin, 1. Januar 1998, für die Arbeitsaufnahme des Zukunftsfonds zu ermöglichen und sich damit den Ärger einer sicheren Wählergruppe einzuhandeln. Auf der anderen Seite drängte die tschechische Regierung auf die Einhaltung des Termins, denn aus dem Fonds sollten auch Entschädigungen für tschechische Opfer des Nationalsozialismus gezahlt werden, aber viele der Opfer waren schon verstorben.

In dieser verfahrenen Situation schlug Šedivý seinem Kollegen Kinkel vor, die beiden SL-Vertreter in den Beirat des ebenfalls zu gründenden Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums zu berufen und für den Verwaltungsrat des Fonds zwei andere, weniger bekannte SL-Vertreter zu benennen. Und gleichzeitig sollte Kinkel garantieren, dass mindestens einer der insgesamt vier deutschen Vertreter im Verwaltungsrat zusammen mit den vier tschechischen Vertretern für die Entschädigungsmaßnahmen stimmen wird. „Dem hat Kinkel zugestimmt, und entgegen diplomatischen Gepflogenheiten haben wir diese Vereinbarung mit Handschlag besiegelt. Und sie auch eingehalten!“ Im Februar 1998, anlässlich der Installierung des Beirats des Gesprächsforums, musste Šedivý im Parlament eine fast zweitägige hitzige Debatte wegen Neubauer und Wittmann durchstehen, zumal er den Kern des Kompromisses nicht öffentlich machen konnte.

Freunde in Bonn
Als Mitarbeiter des Prager Instituts für internationale Politik und Wirtschaft war Šedivý seit den sechziger Jahren in gutem Kontakt mit dem Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Bonn, wo er 1967 einen zweiwöchigen Arbeitsaufenthalt absolvierte. Bei einer Deutschlandreise im Jahre 1989 machte er dort erneut seine Aufwartung, „denn ich konnte ein Treffen mit den Freunden in diesem Institut selbstverständlich nicht auslassen“.

In den siebziger und achtziger Jahren bestand zwischen Bonn und den Schwesterinstituten in Warschau, Budapest und Moskau (später sogar Ost-Berlin) ein lebhafter Austausch. Warum wurde damals nicht auch das Prager Institut in die Zusammenarbeit einbezogen? Der langjährige Direktor Karl Kaiser äußerte damals: Solange unsere besten Freunde aus der Zeit bis zum Endes des Prager Frühlings dort ihr Geld mit Kohlenschleppen und Fensterputzen verdienen müssen, bleibt eine Wiederaufnahme der Kontakte mit dem Prager Institut ausgeschlossen.