Eine Phantom-Debatte

In Tschechien gibt es bisher kaum Flüchtlinge aus arabischen Ländern. Der Streit um sie ist dafür umso hitziger
28. 1. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: Vláda ČR
In Tschechien ist die Debatte über die europäische Flüchtlingskrise seit dem Jahreswechsel deutlich schärfer geworden. Das hat auch damit zu tun, dass im Herbst Regionalwahlen anstehen und gleichzeitig ein Drittel der 81 Senatoren neu gewählt wird. Da fast alle Parteien in der Flüchtlingsfrage schon seit Monaten eher die dumpfen Stimmungen an den Stammtischen bedient und die Bevölkerung nur wenig über die Fakten, die Rechtslage und die politischen Möglichkeiten aufgeklärt haben, ist die Stimmung entsprechend aufgeheizt. Dabei dreht sich die aufgeregte Diskussion um ein Phantom: In Tschechien gibt es bislang so gut wie keine Flüchtlinge, dafür ist die politische und mediale Streit über sie umso hitziger.
60 Prozent der Bevölkerung erklären, das Land solle keine Flüchtlinge aus den vom Krieg betroffenen Ländern aufnehmen; nur zwei Prozent treten dafür ein, Flüchtlingen eine Bleibeperspektive zu bieten. Dieses Meinungsbild dürfte zum einen der mangelnden Erfahrung der Tschechen mit fremden Kulturen geschuldet sein. Doch der deutliche Anstieg der abweisenden Einstellungen seit Sommer 2015 nährt sich auch aus einem seit langem andauernden und in den letzten Monaten weiter verstärkten fremdenfeindlichen Trommelfeuer nicht aller, aber vieler Repräsentanten des Staates, der Gesellschaft und der Medien. Bei der Feier zum Gedenken an die Studentenproteste gegen Nazismus und Kommunismus am 17. November erhielt die lautstarke und oft die Grenzen der Meinungsfreiheit strapazierende Bewegung „Wir wollen keinen Islam in Tschechien“ sogar Legitimation dadurch, dass Zeman gemeinsam mit deren rechtsextremem Anführer vom Podium zu der Menge sprach.
Für die Wochenendausgaben von „Právo“ und der „Volkszeitung“ ließen sich nun Präsident Miloš Zeman und Premierminister Bohuslav Sobotka (ČSSD) in ausführlichen, jeweils zwei Seiten umfassenden Interviews zu aktuellen politischen Problemen, darunter besonders zum Flüchtlingsthema befragen. Schon eine Woche zuvor hatte sich Vizepremier Andrej Babiš (ANO) ebenfalls in einem Interview breit dazu ausgelassen.
Zeman sieht die Lösung der Krise in einer einzigen Maßnahme, und zwar im „effektiven Schutz der EU-Außengrenzen (…) durch einen europäischen Grenzschutz“. Der gegenwärtige Schutz durch „1.500 Männer, gegebenenfalls Frauen“ sei geradezu „komisch“, eine „Operettenarmee“. Stattdessen sollten 28.000 Grenzschützer zur Verfügung gestellt werden, von jedem EU-Land 1000. Allerdings gefällt es dem Präsidenten nicht, dass zur Realisierung ein halbes Jahr im Europäischen Parlament und anderen EU-Institutionen verhandelt werden müsste. Deshalb wäre es besser, auf die Truppen der NATO zurückzugreifen. Aber warum sollte das NATO-Mitglied Türkei dem zustimmen, wenn es schon das Rückführungsabkommen mit Griechenland dauerhaft missachtet? Zeman ignoriert das oder er weiß es nicht.
Ein immer wieder variiertes Thema ist die notwendige „Deportation“ aller „illegalen Immigranten“, die „in diesen Fällen als einzige Maßnahme in Frage kommt“. Das klingt rasant, so stellt sich der Bürger einen (zu allem?) entschlossenen Politiker vor. Aber was, wenn unbekannt ist, woher die Flüchtlinge kommen? Dann muss die EU laut Zeman „mit Ländern, die zur Aufnahme von Migranten, deren Herkunftsland nicht bekannt ist, eine Vereinbarung“ schließen. Als „theoretische Überlegung“ führt er Algerien an (das notabene sogar bei der Rückübernahme der eigenen Staatsbürger kaum kooperiert).
Auch zur Entwicklung in Deutschland hat Zeman festgefügte Ansichten. So wären die Übergriffe auf Frauen in der Kölner Silvesternacht vorauszusehen gewesen, wenn man „den Koran und andere islamische Texte gelesen hätte“. Und er weiß auch, „dass die bayerische Landesregierung sogar beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen die Untätigkeit der Bundesregierung eingereicht hat.“ Sind alle seine Informationen so zuverlässig?
Die beste Methode besteht für Zeman darin, „die illegalen Immigranten ins Binnenland überhaupt nicht hineinzulassen, sie an den Grenzen anzuhalten und zurückzuweisen“, wenn auch „die Österreicher darüber nicht erfreut wären.“ Ferner denkt er, dass „die tschechische Regierung einen Fehler macht, wenn sie zustimmt, 800 Millionen Kronen (gut 30 Millionen Euro) der Türkei zu geben, weil die Türkei nicht die physische Möglichkeit hat, zweieinhalb Millionen Migranten auf ihrem Gebiet festzuhalten.“
Schließlich geht das Staatsoberhaupt erneut hausieren mit seiner Erkenntnis, der Zug der Flüchtlinge nach Europa sei ein verschwörerisches Werk der Muslimbruderschaft. Dies wisse er von zwei „hochgestellten arabisch-muslimischen Politikern aus Marokko und aus den Vereinigten Arabischen Emiraten.“ Wenn ein tschechischer NATO-General jegliche nachrichtendienstlichen Erkenntnisse über einen solchen Plan bestreitet, kontert der Präsident mit entwaffnender Naivität, dann solle der seine Quellen offen legen. Er selbst habe seine schließlich auch genannt.
Vizepremier Babiš ist inzwischen im Grundsatz bei der Zemanschen Position angelangt, übertrifft ihn aber in seiner Wortwahl und der Absurdität seiner Vorschläge – man wundert sich, dass diese Steigerung noch möglich ist. Hauptsache, er mimt den starken Mann. Was die Flüchtlinge angeht, die sich schon in Europa befinden, so sei dies „ein Problem der Deutschen, von dem sie behaupten, dass sie es schaffen. Das sollen sie dann auch tun und uns nicht ihre Entscheidung aufzwingen, jemanden eingeladen zu haben.“ Das Problem bräuchte freilich gar nicht zu existieren, denn „bevor Frau Merkel diese Leute einlud, warteten die Syrer in Lagern in der Türkei, im Libanon und in Jordanien auf den Frieden.“
Nach den Ereignissen in Köln sei „die Situation heute eine grundsätzlich andere. Wir haben keine Verpflichtung und nach meiner Ansicht können wir jetzt überhaupt niemanden aufnehmen. (…) Tschechien hat mehr als genug eigene Probleme (…). Es geht doch nicht, dass die Europäer weniger Rechte haben als die Immigranten.“
Und er fragt, „wie wird die Türkei mit den EU-Geldern sicherstellen, dass kein einziges Boot ausfährt und kein Migrant mehr die Türkei verlässt?“ Dazu hat er eine Antwort: „In der Türkei muss unter dem Patronat der Vereinten Nationen eine Art amerikanisches Ellis Island entstehen, wo sich die Flüchtlinge sammeln, Asyl beantragen sowie ein Screening durchlaufen. Erst nach der Bewertung der Anträge wird über ihre weitere Zukunft entschieden und anschließend werden die einzelnen EU-Länder in den Prozess einsteigen, falls sie humanitäre Hilfe leisten oder Arbeitskräfte nachfragen.“ Babiš ist seit zwei Jahren Vizepremier und Finanzminister, und könnte nach derzeitigen Meinungsumfragen der nächsten Regierung vorstehen.
Regierungschef Sobotka hat nicht nur seinen Stellvertreter öffentlich und postwendend deutlich kritisiert, sondern in dem Interview vom vergangenen Samstag einige neue, auch gewagte Töne angeschlagen. Der Sozialdemokrat sei „überzeugt, dass wir die Führer der Linken in zehn, zwanzig Jahren eher unter den Freiwilligen finden werden, die im Sommer auf den Balkan abreisten und den Flüchtlingen halfen. (…) Ich würde sie nicht auf den Plätzen suchen, wo Xenophobie, Hass und Rassismus verbreitet werden.“ Eine klare Anspielung auf Zemans Fehltritt vom 17. November letzten Jahres. An die gleiche Adresse ist seine Feststellung gerichtet, ein demokratischer Politiker sollte nicht auf den Wellen des Populismus treiben und die Menschen ängstigen.
Die Linie von Angela Merkel habe er „verstanden als Teil ihrer Wahrnehmung der deutschen Geschichte“. In den Reaktionen einer Reihe von deutschen Politikern spiegelten sich noch immer Schuldgefühle wegen der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs; „wir müssen versuchen, unsere Nachbarn zu verstehen.“
Mit Blick auf Tschechien und gegen Babiš: Integration von Flüchtlingen sei hier möglich, „wir können den Menschen, die in Not sind, die Hilfe nicht völlig verweigern“. Aber Sobotka plädiert auch für Grenzen der Aufnahme und klare Regeln der Flüchtlingspolitik und beruft sich dabei auf Gerhard Schröder. Vor allem aber heben sich seine Äußerungen wohltuend ab von denen, die verbal sozusagen mit der Faust auf den Tisch schlagen, einfachste Lösungen lieber heute als morgen umgesetzt sehen wollen und fast mit jedem Satz auf die dumpfen Stimmungen an den Stammtischen zielen.
Zeman hat in sein Interview übrigens einen schlitzohrigen Hinweis für Sobotka und die Sozialdemokraten platziert. Auf die Frage, ob er nach den nächsten Parlamentswahlen bereit sei, Babiš mit der Regierungsbildung zu beauftragen, falls das Ergebnis der Wahlen den derzeitigen Umfragen entspreche, reagierte Zeman: Er verfahre immer so, dass er den Wahlsieger damit beauftrage. „Und wenn dieser dann die Vertrauensabstimmung im Parlament gewinnt, ernenne ich ihn zum Premier. Das würde ich im Falle von Herrn Babiš, Herrn Sobotka, Herrn Chovanec tun.“
Chovanec ist zurzeit Erster Stellvertretender Parteivorsitzender der ČSSD und steht als Innenminister Zemans Linie in der Flüchtlingspolitik nahe. Allerdings gibt es keine Indizien, dass Sobotka seinem Stellvertreter (und Rivalen) das Feld überlassen will. Man darf gespannt sein, ob sich Chovanec aus Zemans Zaunpfahl einen Dolch schnitzt.
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“