Ein Stück Kindheit

Ein Stück Kindheit

Im Letná-Park befindet sich das älteste erhaltene Bodenkarussell Europas. Noch steht es still

15. 3. 2016 - Text: Jan NechanickýText: Jan Nechanický; Foto: NTM

Dieses Karussell sei für ihn immer „das schönste der Welt“ gewesen, sagt Michal Horáček. „In den fünfziger Jahren brachten meine Eltern mich fast jede Woche hierher“, erinnert sich der Buchautor, Texter und Musikproduzent. „Ich hatte sogar ein Lieblingsholzpferd.“ Horáček gehört zu einer Gruppe von Prominenten, die sich für die Renovierung des alten Karussells im Letná-Park einsetzen. Dort drehten sich die Holztiere einst um drei Ritter in silberner Rüstung zum Klang eines Orchestrions, in das man verschiedene Notenrollen schieben konnte.
Wie für Horáček bedeutet das Karussell im Letná-Park für viele Prager ein Stück Kindheit. So auch für die Neugierigen, die sich in der vergangenen Woche vor dem kleinen hölzernen Gehäuse versammelten. Nach mehreren Jahren wurde der Blick auf die Pferde, auf denen man reiten, und die Autos, in denen man im Kreis fahren konnte, erstmals freigegeben. Bis sich Kinder wieder in die Sattel setzen und im Rhythmus des Orchestrions auf Fantasiereisen gehen können, wird es aber noch eine Weile dauern.

Das Karussell ist in desolatem Zustand, die Technik nicht mehr betriebsfähig, die Pferde stark beschädigt. Nicht nur mit neuen Satteln und Zügeln müssten die Holztiere ausgestattet werden. Auch ein Auge fehlt hier und da, fast alle bräuchten ein neues Fell. Dass es sich lohnen würde, in die Instandsetzung zu investieren, davon sind die Schaulustigen im Letná-Park überzeugt. Vor ihnen steht nämlich nicht nur ein Stück ihrer Kindheit, sondern auch das älteste erhaltene Bodenkarussell in Europa.

Ein provisorischer Bau
Man schreibt das Jahr 1892. In den Ländern der böhmischen Krone regiert Franz Joseph I., in der Neustadt gründen die Bürger den Fußballverein Slavia, im Rahmen der Währungsreform wird die Krone als Zahlungsmittel eingeführt. Es könnte aber auch das Jahr 1893 sein, zum ersten Mal erscheint die Zeitung „Lidové noviny“, der Fußballverein Sparta wird in den Königlichen Weinbergen gegründet. In dieser Stadt – ein Teil von Prag werden die Königlichen Weinberge (Královské Vinohrady) erst 1922 – baut der Zimmermann Matěj Bílek einen hölzernen Pavillon, der ein Karussell mit Holzpferden beherbergen soll.

Hinter dem unscheinbaren Äußeren verbirgt sich eine Rarität.
Hinter dem unscheinbaren Äußeren verbirgt sich eine Rarität.

Die Pferde werden mit Heu ausgestopft und mit Leder ihrer lebendigen Vorbilder bezogen. Bestellt hat das Karussell ein Kunde namens Josef Nebeský. Zuerst wird es vor einem Ausflugsrestaurant in den Königlichen Weinbergen stehen. Ob das Karussell 1893 oder ein Jahr früher gebaut wurde, weiß man heute nicht mehr. Es ist als provisorischer Bau entstanden. Als solches brauchte es auch keine Baugenehmigung und keinen Eintrag im Grundbuch. Maximal zehn Jahre sollte es betrieben werden. Nun ist es mehr als 120 Jahre her, dass sich das Karussell zum ersten Mal drehte. An seinem jetzigen Platz steht es seit 1894. Der heutige Letná-Park war schon damals ein beliebter Ausflugsort. Von der einen Seite fuhr die Seilbahn von der Moldau den Hügel empor, von der anderen Seite kam die erste elektrische Bahn der Stadt – die „Elektrische Bahn von Belvedere“.

Durch die Kraft eines Dieners
Auf 19 Pferden konnten die Besucher des Karussells anfangs reiten. Erst später kamen kleine Autos dazu. Zuerst wurde das Karussell manuell bedient, „durch die Kraft eines umherrennenden Dieners in Bewegung gesetzt“, wie in der ursprünglichen offiziellen Dokumentation zu lesen ist. Diese Methode hat dann ein Zahnradsystem ersetzt. In den dreißiger Jahren bekam das Karussell den ersten Elektromotor. Der jetzige Motor stammt aus dem Jahr 1981. Seine Kraft passte jedoch nicht zu dem ursprünglichen Getriebe und die Pferde galoppierten viel schneller als vorgesehen.

Im Lauf der Jahre wechselte das Karussell auch mehrmals die Besitzer. Nach Nebeský gehörte es Václav Schalman. Dessen Frau und später die drei Töchter haben es bis zum Ende des 20. Jahrhunderts betrieben. Der fehlende Eintrag im Grundbuch machte es möglich, dass das Karussell auch nach 1948 in Privatbesitz blieb. 2004 kaufte es das Nationale Technikmuseum in Prag den drei Töchtern ab, denen das Geld für die Renovierung fehlte.

Ungewisse Zukunft
Heute dreht sich das Karussell gar nicht mehr. Bis 2004 war es an Wochenenden noch gelegentlich im Betrieb. Obwohl es seit 1991 unter Denkmalschutz steht, ist seine Zukunft ungewiss. 1995 fand die erste Rekonstruktion statt. Das löchrige Dach wurde geflickt, die vermoderten Bretter ersetzt. Für die Renovierung des Inneren fehlte aber bisher auch dem Museum das Geld. Seit Jahren versucht es, Mittel für weitere Renovierungsarbeiten zu beschaffen. Ein Antrag auf Förderung durch EU-Gelder wurde abgelehnt.

Mit Unterstützung des Kulturministeriums sollen jetzt der Pavillon und die technische Ausstattung renoviert werden. Etwa fünf Millionen Kronen (185.000 Euro) soll das kosten. Die restlichen drei Millionen, die für die Rettung der Pferde und die Rekonstruktion des Interieurs gebraucht werden, fehlen aber immer noch. Im vergangenen Jahr hat das Museum eine öffentliche Spendenaktion gestartet, die bis heute etwa 360.000 Kronen brachte. Immer wieder finden sich neue Spender. Das Museum ist deswegen zuversichtlich. Es hofft, dass es das Karussell im Sommer oder Herbst 2017 wieder eröffnen kann.