Die Mitte der Welt
Genius Loci

Die Mitte der Welt

Zu Besuch in Olomouc – eine Stadt, die Julius Cäsar zwar nicht gründete, aber er hätte es tun können

3. 11. 2019 - Text: Jiří Peňás, Übersetzung: Josef Füllenbach, Titelbild: Jan Fidler, CC BY 2.0

Informationen zum Autor und der Serie „Genius loci“

Auf dem Bahnhof von Olomouc (Olmütz) überprüfe ich immer, ob der Horde jauchzend-tanzender Hannaker [Bewohner der Region Haná in Mittelmähren, deutsch Hanna oder Hannakei, zu der auch Olmütz gehört; Anm. PZ] die Buchtel nicht ausgegangen sind, die dort eine Person im Trachtengewand an die jungen Leute verteilt, während eine andere aus einem Krug vermutlich Bier ausschenkt, was in der Hannakei üblicher ist als Wein. Am besten passt aber Sliwowitz zur Hannakei. Die Schnitter fuchteln mit ihren Sensen gefährlich über den Köpfen; sie sind wohl schon angetrunken, und als nächstes könnten die Köpfe der jungen Frauen unter ihren Hauben fallen.

Zlamals Fresko (Detail) | © Jiří Peňás

Seit meiner frühesten Kindheit fällt mein Blick auf dieses Sgraffito des deutschmährischen Malers Wilhelm Zlamal (1915–1995), der im Gegensatz zu seiner Mutter und seinen Geschwistern nicht vertrieben wurde, weil er mit einer Tschechin verheiratet war, der ihnen aber auch nicht nach Bayern folgen durfte. Zlamals sozialistisch-realistisch-utopistisches Fresko in der Bahnhofshalle von Olomouc war der erste Eindruck von Mähren, wenn man aus Prag kommend aus dem Zug stieg und augenblicklich in diese andere Welt eintauchte, die meinem Herzen intuitiv irgendwie näher war: Denn ich bin doch auch ein Hannaker, aus Prostějov (Proßnitz), wohin die Fahrt dann weiterging und wo meine Eltern zu Hause waren.

Das ist lange her, aber manches geht einem nicht aus dem Kopf. Zum Beispiel dass am späten Abend, wenn wir wieder in den Nachtschnellzug nach Prag stiegen, der Bahnhof voll war von russischen Uniformen, diesen grauen Filzmänteln bis über die Knie hinunter, auf dem Kopf riesige Schirmmützen und an Stelle von Koffern mit Papier umwickelte und mit Bindfaden verschnürte Bündel von Okkupationsraubgut. Eine andere beliebte Beute waren Kronleuchter mit Klimperzeug, dessen Gebimmel die ganze abendliche Bahnhofshalle erfüllte, wenn die Offiziere und ihre Matronen sich anschickten, den Nachtzug nach Moskau zu besteigen.

Bahnhofshalle mit Zlamal-Sgraffito | © Hynek Moravec, CC BY 3.0

Die Familien der Besatzungssoldaten nahmen in Olomouc ganze Trabantenstädte in Beschlag, die Chanov [ein heruntergekommenes Roma-Ghetto bei Most (Brüx); Anm. PZ] bald in nichts nachstanden. Ich erinnere mich, wie sich meine mährischen Verwandten darüber erstaunt zeigten, dass die Russen die Fensterscheiben mit Zeitungen beklebten, wie sie es von zu Hause gewohnt waren, und ich selbst war sprachlos, als ich das tatsächlich am Rande von Olomouc mit eigenen Augen sah. Asien im Herzen von Mähren …

Auf diese Weise ist es den mongolischen Barbaren doch noch gelungen, das ganze Land in ihren Sumpf zu ziehen. Ich betrachtete das mit meinen Kinderaugen, und die Schatten auf dem Bahnhof waren so etwas wie ein Trugbild aus einer anderen Welt. Doch taten sie mir dabei auch irgendwie leid, es verband mich nämlich mit ihnen ein gemeinsames Schicksal: der Weg, der für mich und für sie hier begann. Ich fuhr Richtung Westen in das unwirtliche Sudetengebiet und sie nach Osten irgendwohin in den Frost der Steppen, wo alles im östlichen Nichts endet.

Caesar-Brunnen | © Ben Skála, Benfoto, CC BY-SA 3.0

Ansonsten strahlt Olomouc freilich etwas Feierliches aus. Ich bin überzeugt, dass dies jeder fühlt, der dorthin kommt. Dieser außergewöhnliche und erhabene Reichtum an sakralen Bauten, wenn auch schon altersgrau und von Staub bedeckt, eher vergessen und plebejisch verfallen. Ja, es war berühmt, dieses Olomouc, diese nach Prag zweite Stadt des Königreichs, das Juwel Mährens, mit der Juliushöhe, dem Juliomons, die tatsächlich, wie es heißt – aber glaubt daran! –, von Julius Cäsar persönlich gegründete civitas. Auf dem Hügel, wo die St. Michaelskirche steht, soll Cäsar eine gewisse turris Julia beziehungsweise einen Juliusturm errichtet haben; das jedenfalls glaubten die humanistischen Gelehrten und Patrioten.

Olomouc könnte unsere einzige römische Stadt sein, dabei ist die Antike in der Hannakei erst in jüngerer Zeit zum Vorschein gekommen mit jenen vom Süden vollgesogenen Trachten, auf denen das satte Rot dominierte, diese heilige Farbe von Byzanz. Und während die Leute vom Lande und den umliegenden Dörfern slawisch waren und tschechisches Mährisch sprachen, so dass die Bauern auf den Markt nach „Holomóca“ fuhren, wie sie Olomouc in ihrem Dialekt nannten, war die stolze Mitte das deutsche Olmütz, mit Burschenschaften und Schützenvereinen und Honoratioren und zahlreichem Klerus.

Die Juden waren schon um die Hälfte des 15. Jahrhunderts aus Olomouc nach Predigten des übergeschnappten Franziskanermönchs Johannes Capistranus vertrieben worden. Der war nur mit einer groben Decke bekleidet und eiferte gegen die Juden an der Stelle, wo heute die Sokolská-Straße verläuft. Erst 1848 konnten sie wieder nach Olomouc zurückkehren, aber nie erreichte ihre Zahl mehr als ein paar Hundert, im Gegensatz zu Prostějov, wo eben die Juden aus Olomouc Zuflucht gefunden hatten. Aber das alles ist nun längst vergangen.

Olmützer Synagoge (erbaut um 1895, niedergebrannt 1939)

Ich werde hier die alten bekannten Sachen nicht mehr wiederholen, also die Geschichte von der blutigen Pawlatsche, auf der angeblich Václav III., der erst 17-jährige und letzte Přemyslidenkönig, 1306 ermordet wurde; auch nicht von den unseligen Schicksalen der mährischen Zweige des Přemyslidengeschlechts erzählen, deren Spuren sich nach 1200 im Dunkel der Geschichte verlieren; oder all das mit den Bischöfen und Erzbischöfen, die so mächtig und reich waren, dass der Prager Primas im Vergleich zu ihnen als armer Verwandter galt, während sie selbst sich etwa diesen Tizian kauften, auf dem der Jüngling Apollon dem an den Hufen aufgehängten Bock Marsyas vom ganzen Körper die Haut abziehen lässt. Jetzt hängt das Gemälde in Kroměříž (Kremsier), das für sie so eine Art Castel Gandolfo war, wohin die Erzbischöfe im Sommer fuhren, um sich an Rosen und anderen Zierpflanzen zu ergötzen.

Tizians „Schindung des Marsyas“ (1570–1576) gilt als wertvollstes Kunstwerk in Tschechien.

Auch dankte hier 1848 Ferdinand der Gütige von Habsburg ab, und als er seinem 18-jährigen Neffen Franz Joseph auf die Schulter klopfte, soll er die bewegenden Worte gesagt haben: „Gott segne dich, sei brav, es ist gern geschehen.“ Einen vollkommeneren Segen und Rat kann man sich schwerlich vorstellen: sei brav …

Mit diesen und weiteren Ereignissen trat Olomouc also in die europäische Geschichte ein, aber zum Beispiel damit, dass hier drei Jahre lang (1794–1797) der Marquis de La Fayette in Festungshaft gehalten wurde, nachdem er zuvor den Vereinigten Staaten die Unabhängigkeit erkämpft hatte, fand die Stadt auch in der Weltgeschichte ein Plätzchen.

Olomouc ist freilich vor allem eine vollkommen mitteleuropäische Stadt, möglicherweise ein Vorbild aller mitteleuropäischen Städte. Wenn wir einen Zirkel in sie hineinsteckten, dann könnte der Kreis fast die Städte Prag, Wien und Bratislava berühren, ein nur wenig größerer Kreis gar Krakau, Budapest, Dresden und München. Olomouc ist also ganz und gar eine Stadt der Mitte mit seiner Lage, seiner Ausdehnung, vielleicht sogar seiner Mentalität.

Mitteleuropäisch waren auch das Schicksal der jüdischen Bevölkerung bereits im Mittelalter und die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Neuordnung des Staates wurde Olomouc für einige Jahrzehnte zu einer bloßen Kreisstadt degradiert … Es begann ein Niedergang, den die Stadt nicht verdient hatte. Seit Anfang der neunziger Jahre geht es wieder bergauf, die Kirchen wurden rasch wiederhergestellt, als im Jahre 1995 Papst Johannes Paul II. hier war und den hiesigen Märtyrer Johannes Sarkander heilig sprach [er war am 17. März 1620 an den Folgen der Folter in Olomouc gestorben; Anm. PZ].

Olomouc ist mit über 100.000 Einwohnern die sechstgrößte Stadt Tschechiens. | © APZ

Was stellt Olomouc eigentlich heute dar? Einen verschlafenen Verwaltungs-Krähwinkel? Oder eine Stadt der Akademiker? Soll die Stadt nach Höherem streben oder lieber nicht? Wie zum Beispiel mit diesem Mitteleuropäischen Forum Olomouc (SEFO), dessen Pläne seit Langem auf dem Tisch liegen. Das Projekt und die Baugrube sind vorbereitet, aber immer noch gähnt an der Stelle, wo das Forum schon im Jahre 2014 stehen sollte, nur das Loch im Boden, und die Schutzzäune sind mit Plakaten beklebt. Der Autor des Bauvorhabens ist einer der bedeutendsten tschechischen Architekten, Jan Šépka.

Grundlage des Forums sollen drei robuste „Häuser“ aus Beton sein, die zwar brutal, aber mit ihrer Verjüngung nach oben erkennbar an die gotischen Häuser anknüpfen, die dort standen und Ende der sechziger Jahre abgerissen wurden. Es sind irgendwie deren Phantome oder Grabsteine, unter denen es allerdings lebendig sein soll. Im Projekt rechnet man mit Ausstellungs- und Konferenzsälen, mit einer Bibliothek, einem Kammertheater und einem Kinosaal. Selbstverständlich auch mit einem Café und solchen Sachen. Auf einem kleinen Platz zwischen den Betonbauten soll den Plänen gemäß Aleš Veselý’s berühmte Plastik Kaddish – Gebet für einen Verstorbenen aus dem Jahre 1968 stehen. Eines der wirkmächtigsten Werke der tschechischen bildenden Kunst nach dem Kriege wartet schon Jahre auf einen angemessenen Platz.

Mitteleuropäisches Forum Olomouc (Entwurf) | © Šépka architekti

Die Statue, die sich ausbreitet wie das Riesenskelett eines Vogels, hat schon seit 300 Jahren in Olomouc ihr Pendant, nämlich die Dreifaltigkeitssäule auf dem Oberring, meine private Mitte von Mitteleuropa. Sie sieht aus wie ein riesiges Petschaft oder ein himmlischer Stempel, der soeben den Erlass über die Verschiebung des Untergangs der Welt auf das Pflaster gestempelt hat. Als Ende Mai 1758 die Preußen gen Olomouc rückten, war die Säule gerade vor vier Jahren feierlich eingeweiht worden. Auch Maria Theresia wohnte mit ihrem Franz Stephan von Lothringen der Zeremonie bei.

Die goldglänzende Spitze der Säule mit der Darstellung der Dreifaltigkeit bot den Preußen einen idealen Orientierungspunkt zur Ausrichtung ihrer Geschütze, die sie auf den Anhöhen nördlich der Stadt dislozierten, welche sich vor ihnen wie auf einem Teller ausbreitete. Die Preußen feuerten im Juni insgesamt 25000 Geschosse auf die Stadt ab. Obwohl sie hauptsächlich auf die Festung zielten, beschädigten doch einige Kugeln die Säule. Eine Abordnung der Stadt soll sich zu den Belagerern aufgemacht haben mit der Bitte, doch so liebenswürdig zu sein und die Geschütze auf andere Ziele als auf die Säule zu richten. Denn diese hätten sie nahezu vierzig Jahre lang gebaut und mit Statuen geschmückt, und sie habe alles in allem hunderttausend Gulden gekostet, eine ungeheure Summe, ohne weiteres eine Milliarde Kronen.

Die Dreifaltigkeitssäule gehört seit 2000 zum Unesco-Welterbe.

Zum Glück gerieten sie an einen intelligenten Kommandanten, General James Keith, der in preußischen Diensten stand, aber aus Schottland stammte und deshalb für solche Anliegen Verständnis hatte. Er gab einen Befehl heraus, wonach nicht auf die Säule geschossen werden sollte, der dann auch eingehalten wurde. Zum Gedenken daran wurde an der Säule eine vergoldete Artilleriekugel angebracht; wenn eine junge Frau ihrer ansichtig wird, kann sie angeblich schwanger werden, was in der Mehrzahl der Fälle zutrifft. Die Preußen trollten sich ohnehin bald davon, weil ihnen am 30. Juni 1758 bei Domašov nad Bystřicí (Domstadt), das schon zu Schlesien gehört, General Laudon [österreichischer Heerführer, bedeutender Gegenspieler von Friedrich II.; Anm. PZ] einen mächtigen Nachschubkonvoi oder -tross gesprengt hatte, der Nahrungsmittel und andere unerlässliche Güter, zum Beispiel Kanonenkugeln, mit sich führte.

Kanonenkugel an der Dreifaltigkeitssäule | © Jan Kameníček, CC0

Im Ergebnis blieb Friedrich II. keine andere Wahl als die Belagerung aufzugeben und zähneknirschend abzuziehen … Und das war für unsere Heimat wohl eher ein Glücksfall, denn wäre Olomouc gefallen, hätten die Preußen Wien vor sich gehabt wie auf einem Tablett. Und Gott weiß, ob dann nicht Mähren von Böhmen getrennt worden wäre, auch wenn sich das vielleicht manche Mährer gewünscht hätten und einige heute noch wünschen.

Abendstimmung am Oberring (Horní náměstí) | © Joshua Hanson

Der Artikel ist im Original unter dem Titel „Razítko na střed světa v Olomouci. Město, které sice Julius Caesar nezáložil, ale mohl by“ in der Ausgabe 9 vom 28. Februar 2019 der Wochenzeitschrift „Echo“ erschienen.

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